Chancenaufenthalt für 4000 Berliner

Innerhalb eines Jahres erreichten die Berliner Ausländerbehörde über 6000 Anträge auf Chancenaufenthalt

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer geduldet wird, hängt von der Nachsicht des Staates ab, und hat kein Recht auf Sozialleistungen, auf Arbeitserlaubnis, auf Freizügigkeit, auf eine Leben ohne Angst vor Abschiebung. Das Chancenaufenthaltsrecht bietet Menschen, die schon seit Jahren mit diesem ausweglosen Status leben, einen Ausweg. Vergangenes Jahr beschloss die Bundesregierung die bisher einmalig geltende Regelung: Wer bis zum Stichtag, dem 31. Oktober 2022, mindestens fünf Jahre lang mit einer Duldung in Deutschland gelebt hat, nicht vorbestraft ist und sich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung bekennt, kann den 18-monatigen Aufenthalt beantragen. Wird er bewilligt, können sich die Menschen nach eineinhalb Jahren dann um eine andere Aufenthaltserlaubnis bemühen.

Von über 14 000 Berliner*innen, die mit einer Duldung leben, wurde bisher weniger als einem Drittel der Chancenaufenthalt erteilt. Das geht aus der Senatsantwort auf eine schriftliche Anfrage hervor, die der fluchtpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus Jian Omar gestellt hat. Bis zum 31. Oktober 2023 hat das Landeseinwanderungsamt (LEA) 3953 Titel gemäß des Chancenaufenthaltsgesetzes bewilligt. Insgesamt gingen innerhalb eines Jahres 6102 Online-Anträge beim LEA ein.

Jian Omar liest aus diesen Zahlen einen Erfolg. »Dass schon knapp 4000 Menschen aus der Duldung herausgekommen sind, zeigt, was für ein großes Potenzial da steckt.« Laut Innenverwaltung sind außerdem schon 694 Menschen vom Chancenaufenthalt in eine längere Aufenthaltsform gewechselt. »Wir sehen, dass die Menschen diese Möglichkeite nutzen, und das ist eine Win-Win-Situation: Sie finden eine Perspektive, gehen in ein Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis und das Land profitiert von den neuen Arbeitskräften«, so Omar zu »nd«. Zusätzlich entlaste das Gesetz langfristig die Behörde: »So müssen nicht alle paar Monate die Duldungen neu ausgestellt werden.«

Emily Barnickel vom Flüchtlingsrat Berlin hält den Chancenaufenthalt prinzipiell für eine gute Idee. »Er ermöglicht einen Aufenthaltstitel ohne komplizierte Bedingungen. Damit kommen die Leute leichter an Jobs, an Wohnraum, an Deutschkurse.« Doch in Berlin müssten die Antragstellenden Monate auf eine Rückmeldung warten. »Ich hatte neulich einen Extremfall, da hat jemand im Februar den Antrag gestellt und bis heute nichts gehört«, erzählt Barnickel. Das führe bei den Betroffenen zu großer Verunsicherung. Eigentlich gilt in Berlin zwar die Regel, dass nicht abgeschoben werden darf, wer den Antrag auf Chancenaufenthalt bereits abgegeben hat – außer es sprechen eklatante Gründe dagegen. »Wie sollen wir das Leuten erklären: Du bist sicher, es sei denn, das LEA findet Gründe dagegen.«

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Einen Mangel sieht Barnickel auch in der Beratungslage. »Die Kenntnisse vieler sind eher diffus, sie wissen zum Beispiel nichts vom Stichtag oder haben eigentlich schon subsidiären Schutz.« Ihrer Erfahrung nach würden manche Mitarbeitende des LEA die Klient*innen nicht auf die Möglichkeit des Chancenaufenthalts hinweisen. »Es gibt Menschen, die tingeln durch das Amt und niemand sagt ihnen, dass sie den Anspruch hätten.« Nun werde auch noch der Beratungsservice der Ausländerbehörde zu Jahresbeginn eingestellt, die sonst per Mail und Telefonsprechstunde Fragen zu Behördenabläufen beantwortet. »Das war immerhin ein Zugang zu der Behörde, den gibt es dann nicht mehr.«

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