Erika Runge: Sagen, was ist

Zum Tod von Erika Runge

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 3 Min.
Erika Runge schaut in den und aus dem Alltag: unter Leuten im Café
Erika Runge schaut in den und aus dem Alltag: unter Leuten im Café

Ein ehemaliger Freund schenkte mir vor Jahren einen schmalen gelben Suhrkamp-Band: »Frauen. Versuche zur Emanzipation« hieß der und wurde bereits 1969 von der mir bis dahin völlig unbekannten Erika Runge geschrieben. Darin hat Runge Frauen unterschiedlichster Herkunft, Ausbildung und Interessen befragt. Ihre Antworten – und die Lebensgeschichten, die darin zum Vorschein kommen – beleuchteten eindeutig die Differenz zwischen angeblicher Geschlechtergleichheit und dem (bis heute) tatsächlichen Status der Frauen in der Gesellschaft. »Damit du in deiner Arbeit die Frauen nicht vergisst«, meinte der Freund damals. Zu dieser Zeit begann ich gerade meine Forschung mit marginalisierten Menschen. Ein wichtiger Hinweis. Und in Runges Büchern bin ich seither immer wieder versunken.

Ein Jahr vor dem »Frauen«-Buch erschien das wohl bedeutendste Werk der 1939 in Halle an der Saale geborenen Fernsehregisseurin, promovierten Philosophin, engagierten Feministin und Kommunistin Runge: Mit den »Bottroper Protokollen« prägte sie den Begriff und die Praxis der Dokumentarliteratur sowie der »Oral History«. Der Begriff stammt aus dem Englischen und ist eine Methode der Geschichtswissenschaft, die auf Gesprächen mit Zeitzeugen basiert.

Nach Studium und Promotion in München arbeitete Runge als Regieassistentin beim NDR und begann dabei ihre Feldforschung. Die in Bottrop geführten Tonbandgespräche, bei deren Verschriftlichung sie den sprachlichen Stil der Interviewten beibehielt, waren die Basis für die im Buch versammelten acht nahezu wortgetreu aufgezeichneten Lebenserinnerungen von Menschen aus dem Ruhrgebiet. Sie wollte Wirklichkeit so darstellen, wie sie ist, meinte sie rückblickend – ohne Verfälschung oder Bewertung. Das Buch wurde somit zu einem Schlüsseltext für das Verständnis der sogenannten kleinen Leute – und mindestens ebenso bedeutsam wie das voluminöse Werk »Das Elend der Welt« des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, der Anfang der 90er Jahre einen ähnlichen Ansatz wählte.

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Als Nebenprodukt zu den »Bottroper Protokollen« entstand 1968 der vielfach prämierte Dokumentarfilm »Warum ist Frau B. glücklich?«, für den Runge die im Buch interviewte Bergarbeiterwitwe, Hausfrau und Putzkraft Maria Bürger einlud, ihr eigenes Leben zu spielen. Mit der Darstellung der häufig widersprüchlichen Realität der Proletarierin schrieb Runge Filmgeschichte. Da ihre weiteren Filme überwiegend für das öffentlich-rechtliche Fernsehen produziert wurden und aktuell nur schwer zugänglich sind, wurde sie vor allem als Schriftstellerin bekannt. Es folgten weitere sozialkritischen Reportagen; als Linke schrieb sie zudem unter anderem für die Hamburger Zeitschrift »Konkret«.

Runge war mit dem Regisseur Rainer Werner Fassbinder bekannt und spielte 1975 in dessen Film »Ich will doch nur, daß ihr mich liebt« – eine Psychotherapeutin. Ab Mitte der 90er Jahre war Erika Runge, die sich eindeutigen Zuschreibungen stets entzog, dann auch tatsächlich als Psychotherapeutin in Berlin tätig und trat kaum noch öffentlich auf. Bereits am 31. Oktober ist sie in Berlin im Alter von 84 Jahren gestorben.

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