Vorhersage von Erdbeben: Signale aus dem Untergrund

Seismologen suchen bestimmte Muster in den Messdaten, die auf bevorstehende Erdbeben hindeuten könnten

  • Michael Lenz
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein schweres Erdbeben sorgte am 6. November im nepalesischen Jajarkot für Zerstörung.
Ein schweres Erdbeben sorgte am 6. November im nepalesischen Jajarkot für Zerstörung.

In diesem Jahr erschütterten schwere Erdbeben Marokko, die Türkei, die Südseeinsel Vanuatu, Japan, Afghanistan und viele andere Orte weltweit. Zuletzt brachten Anfang November im Distrikt Jajarkot im Westen von Nepal zwei schwere Erdbeben innerhalb von drei Tagen Tod und Zerstörung.

Beben treten überall dort auf, wo Erdplatten sich bewegen, aneinander vorbeischrammen, sich verhaken und im Abstand von Jahrzehnten, Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden die aufgestaute Energie mit gewaltiger Wucht freisetzen. Auch Deutschland ist davor nicht gefeit, wie zum Beispiel die, wenn auch milden Beben zwischen Aachen und Köln oder auch im Oberrheingraben immer wieder zeigen.

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Gegenüber der »Nepali Times« warnte der Seismologe Roger Bilham, dass die schweren Erdbeben, die 2015 Kathmandu erschütterten, wie auch jetzt die Beben in Jajarkot Vorläufer eines überfälligen großen Bebens gewesen sein könnten. In der seismischen Bruchzone im Westen Nepals, so Bilham, habe sich eine enorme tektonische Energie angesammelt, die seit 500 Jahren nicht mehr freigesetzt worden sei.

Ob das große Beben Nepal morgen, nächstes Jahr oder erst in vielen Jahren erschüttern wird, weiß niemand. Noch immer haben die Seismologen nämlich keine Mittel zur Vorhersage von Erdbeben gefunden, auch wenn weltweit dazu eifrig beobachtet, gemessen, experimentiert und geforscht wird.

Experten des Geoforschungszentrums (GFZ) in Potsdam haben jetzt in einer neuen Studie Daten zu seismischen Signalen vorgestellt, die die Vorhersage für einige große Beben verbessern könnten. Dafür haben die Studienleiterin Patricia Martínez-Garzón und ihre Kollegen aus den USA und der Türkei umfangreiche Messungen in der Ostanatolischen Verwerfungszone durchgeführt, wo im Februar 2023 ein Doppelbeben mit Stärken von 7,8 und 7,6 auf der Richterskala mehr als 60 000 Todesopfer gefordert hat. 300 000 Gebäude wurden zerstört oder beschädigt, der finanzielle Schaden belief sich auf rund 120 Milliarden US-Dollar.

Vorboten des Erdbebens in der Türkei

Die Wissenschaftler fanden laut der Ende November im Fachjournal »Nature Communications« veröffentlichten Studie heraus, dass es seit etwa acht Monaten vor dem Erdbeben in der Türkei »in Clustern im Umkreis von 65 Kilometern um das Epizentrum eine Beschleunigung der seismischen Ereignisraten und größere Energiefreisetzung« gab. Eine derartige raum-zeitliche Fokussierung von Seismizität sei schon aus kontrollierten Gesteins-Deformationsexperimenten im Labor bekannt gewesen und vor dem Bruch der Gesteinsproben beobachtet worden. Das gleiche Phänomen sei in den letzten Jahrzehnten bei mehreren, allerdings bei Weitem nicht bei allen großen Erdbeben entlang kontinentaler Verwerfungszonen beobachtet worden.

Seismische Signale zu messen und zu identifizieren und sie mit modernen Datenverarbeitungstechniken und Maschinellem Lernen zu analysieren, ist also technisch möglich. Die große Frage sowohl der Wissenschaftler als auch der Menschen in den Erdbebenregionen betrifft aber die konkrete Vorhersagekraft solcher Daten. »Dies ist derzeit eine der größten Herausforderungen: das Potenzial solcher Signale zu bestimmen, um das Potenzial drohender Erdbeben zu erkennen. Aber so weit sind wir immer noch nicht«, räumt Martínez-Garzón gegenüber »nd« freimütig ein.

Das Ausmaß von Zerstörung und die Zahl der Toten hängen sowohl von der Schwere als auch von der Art des Bebens ab, wie zum Beispiel die Dreifachkatastrophe auf indonesischen Insel Sulawesi im Jahr 2018 zeigte: Ein Seebeben der Stärke 7,5 löste einen Tsunami und in der Folge eine Bodenverflüssigung aus. Das Erdreich wurde weich und wabbelig wie ein Pudding, verschlang wie ein gieriges Monster ganze Dörfer. Die Bilanz der Naturdramen: Es gab 4300 Tote, und 170 000 Menschen verloren ihre Häuser, Fischerboote, Geschäfte und damit ihre Lebensgrundlage.

Tote durch sichere Bauweisen vermeiden

Ein anderer Faktor für das Ausmaß von Erdbebenschäden ist die Bauweise von Gebäuden. Alte, aus Backsteinen gebaute Häuser wie auch viele der historischen hinduistischen Tempel der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu waren 2015 wie Kartenhäuser in sich zusammengefallen. Moderne Gebäude aus Beton, die nach den Regeln der Erdbebensicherheit gebaut waren, hatten zwar Risse im Mauerwerk und sicher auch hier und da Schäden an der Statik erlitten. Aber sie waren nicht zusammengefallen und hatten keine Menschen unter den Trümmern begraben.

Nicht nur in Nepal ist »The Big One« überfällig, sondern auch in der Region Istanbul mit ihren rund 20 Millionen Einwohnern. Klassische seismische Vorhersagen schätzen die Wahrscheinlichkeit für ein solches Erdbeben der Stärke 7 und mehr bis 2034 auf 53 Prozent mit einer Fehlerwahrscheinlichkeit zwischen plus und minus 18 Prozent, erklärt Martínez-Garzón.

Kurzfristige Vorhersagen als Ziel

In der Region betreibt das GFZ das bohrlochgestützte Geophysikalische Observatorium an der Anatolischen Störung (GONAF). Dieses habe die Aufgabe, »die Beobachtungslücke zwischen kontrollierbaren Laborexperimenten und unkontrollierbaren natürlichen, für die Menschheit sehr gefährlichen Erdbeben weiter zu verringern und die Prozesse, die – auf der Zeitskala von Monaten – zu großen Erdbeben führen, besser zu verstehen«, sagt Marco Bohnhoff, Leiter der GFZ-Sektion »Geomechanik und Wissenschaftliches Bohren«. Bohnhoff warnt jedoch vor überhöhten Erwartungen: »Die kurzfristige Vorhersage solcher Ereignisse ist derzeit weiterhin nicht möglich und bleibt ein langfristiges Ziel unserer seismologischen Forschungen.«

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