Tempo 30 in Leipziger Straße bleibt: Noch ist die Luft rein

Die Leipziger Straße in Berlin-Mitte darf Tempo-30-Zone bleiben, eine Klage ist vor Gericht gescheitert

Die Leipziger Straße in Mitte darf Tempo-30-Zone bleiben – bis sie es nicht mehr darf. Eine Klage gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung, basierend auf dem Berliner Luftreinhalteplan, ist gescheitert. Ein aktualisierter Luftreinhalteplan der Verkehrsverwaltung könnte aber schon Anfang 2024 den betreffenden Straßenabschnitt neu bewerten und damit Klagen gegen Tempo 30 eine neue Grundlage geben.

Am Dienstagvormittag fallen im Berliner Verwaltungsgericht in Mitte viele wissenschaftliche Begriffe. Verhandelt wird die Frage, ob der Luftreinhalteplan die Geschwindigkeitsbegrenzung auf dem 1,1 Kilometer langen Abschnitt der Leipziger Straße von Charlottenstraße bis Potsdamer Platz nach wie vor rechtmäßig ermöglicht, obwohl die Messwerte zur Luftverschmutzung stark gesunken sind. Der Kläger Ulrich W., selbst Rechtsanwalt, behauptet Nein, und beruft sich auf »gesunden Menschenverstand«. »Natürlich haben Sie etwas berechnet, aber die Berechnungen sind nicht die Realität«, lässt er sich über die Maßnahme aus, die seit 2018 besteht.

Es kommt einem Sieg der Wissenschaft gleich, als die Richterin am frühen Nachmittag das Urteil verkündet. Demnach sei das Tempo 30 legitim, weil der Luftreinhalteplan zum Zeitpunkt der Erstellung die Verkehrsmaßnahmen durch Prognosen nachvollziehbar begründete. Auch wenn die Messwerte dann 2020 stärker sanken als erwartet, heißt das nicht, dass der Plan dadurch seine Rechtmäßigkeit verliert und aufgehoben werden darf. »Zum anderen spreche vieles dafür, dass der Grenzwert erst durch die ergriffenen Maßnahmen unterschritten worden sei«, heißt es in der Urteilsbegründung weiter. Ein Präzedenzfall, sagt Anette Rauterberg-Wulff, in der Verwaltung für Luftverschmutzung zuständig, im Anschluss zu »nd«: »Was passiert, wenn wir die Grenzwerte einhalten, war bisher nicht genau geregelt.«

Obwohl ihre Verwaltung damit vor Gericht gewinnt, dürfte sich die CDU-Verkehrssenatorin Manja Schreiner nicht über das Ergebnis freuen. »Sollte es so kommen, dass die Kläger Recht bekommen, werden wir schnellstmöglich Tempo 50 auf der Martin-Luther-Straße und den betreffenden Bereichen der Leipziger Straße umsetzen«, hatte sie noch im November gegenüber dem »Tagesspiegel« angekündigt. Die Verhandlung zu einer zweiten Klage gegen Tempo 30 in der Martin-Luther-Straße wurde verschoben, für die Leipziger Straße gilt nun jedoch weiterhin die Maßnahme aus dem Luftreinhalteplan.

Die Tempo-30-Regelung geht ursprünglich auf ein Experiment der damals noch grün-geführten Verkehrsverwaltung zurück. 2018 führte sie als Reaktion auf gesundheitsgefährdende Schadstoffbelastungen auf 33 Straßenabschnitten für zwei Jahre Tempo 30 ein – darunter auch auf der Leipziger Straße. Die erreichte noch 2017 bei Messungen des schädlichen Stickstoffdiozids mit 63 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft Spitzenwerte.

Parallel dazu entstand in der Verwaltung der Luftreinhalteplan, der sicherstellen sollte, dass in Berlin die Stickstoffdiozid-Immission nirgendwo über 40 Mikrogamm pro Kubikmeter liegt. Diesen Richtwert gibt eine EU-Richtlinie vor. Basierend auf eigenen Modellrechnungen sah dieser Plan für die Leipziger Straße zusätzlich zum Tempo 30 auch noch ein Dieseldurchfahrverbot vor.

Die Wissenschaftlerin Rauterberg-Wulff verantwortete damals den Luftreinhalteplan. 2022 hoben sie und ihre Kolleg*innen das Verbot für Dieselfahrzeuge auf, die Tempo-30-Maßnahme blieb aber bestehen: »Es wäre leichtfertig gewesen zu sagen, ich gebe jetzt alle Maßnahmen auf und gucke, was passiert«, begründet sie die Entscheidung.

W. bezweifelt, dass die Geschwindigkeitsbegrenzung überhaupt etwas bringt. »Ich hätte es als sinnvoller empfunden, Dieselautos mal mit 30 km/h, mal mit 50 km/h fahren zu lassen und dann zu messen.« Er glaube nicht, dass sich dann eine höhere Luftverschmutzung, nachweisen ließe. Doch Rauterberg-Wulff erklärt: Während es auf Autobahnen tatsächlich keinen nennenswerten Unterschied machen würde, spiele auf innerstädtischen Straßen vor allem das ständige Abbremsen und Anfahren eine Rolle. »Sie sehen ganz klar, wenn ein Auto beschleunigt, schießen die Emissionen in die Höhe.« Höhere Emissionen beeinflussen dann wiederum die Immission, dazu kommen Aspekte wie die Enge der Straße, das Verkehrsaufkommen, die Fahrzeugflotte und Wetterbedingungen.

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Dass die Immission auf der Leipziger Straße seit 2020 mit 30, 2021 dann 29 und im vergangenen Jahr dann 28 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft deutlich unter dem Stickstoffdiozid-Grenzwert liegt, erklärt Rauterberg-Wulff mit den unvorhersehbaren Folgen der Corona-Pandemie. »Das hat zu einem drastischen Verkehrsrückgang geführt.« Zusammen mit den Maßnahmen aus dem Luftreinhalteplan konnte Berlin so den Luftreinheitswert insgesamt einhalten. »Zum Glück«, betont die Wissenschaftlerin. »Da waren wir uns am Anfang gar nicht so sicher.«

Noch darf die Leipziger Straße also Tempo-30-Zone bleiben. Eine Reform des Luftreinhalteplans steht aber wie jedes Jahr an und könnte zu einer Neubewertung mehrerer Straßen führen. Aktuell werde der Entwurf noch hausintern überarbeitet, heißt es von den Vertreter*innen der Verkehrsverwaltung vor Gericht. Im Frühjahr sei die Veröffentlichung geplant, dann können Bürger*innen in einem Zeitraum von sechs Wochen Einwände vorbringen – und wieder klagen.

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