Selenskyj glaubt an Sieg, Ukrainer immer müder

Militärische Misserfolge führen zu einer Diskussion über die Ausweitung der Mobilisierung

  • Daniel Säwert
  • Lesedauer: 4 Min.

Gute Nachrichten gibt es für die Ukraine gerade wenige. Zwar scheinen mit der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union die Weichen für eine weit entfernte Zukunft gestellt zu sein. Die Gegenwart ist hingegen weniger rosig.

Statt wie groß angekündigt die Russen mit der Gegenoffensive aus dem Land zu vertreiben, rücken die Invasionstruppen ihrerseits vor. Im Nordosten bei Charkiw sei die Lage »kompliziert«, musste die Armee am Dienstag eingestehen. In einem Interview sprach der Bataillonskomandeur Kyrylo Weres gar davon, dass die Ukraine den Krieg global verliert. »Wenn wir den Krieg an allen Fronten nehmen, verlieren wir. Wo gewinnen wir? Ich weiß es nicht. Wir überleben. Etwas zu tun, um zu siegen, und etwas zu tun, um nicht zu sterben, sind verschiedene Dinge. Gerade ist für uns eine sehr schwere Zeit.« Dass sich die Ukraine in solch einer Situation befindet, sei vor allem den überzogenen Erwartungen an die Gegenoffensive geschuldet, sagt Weres. »Wir dachten, dass wir im Sommer auf der Krim sind, und sehr viele haben aufgehört, im Krieg zu leben.«

Frauen und Gefangene an die Front

Aufgrund der immensen Verluste wird in der Ukraine seit Wochen über eine Ausweitung der Mobilisierung diskutiert. Allerdings, so gestand eine Kommandeur vor Kurzem ein, würden die Mobilisierten kaum einen Effekt auf die Kampfkraft der Armee haben. Ähnliches schreibt auch der britische »Economist«. Nach der Grundausbildung in Europa habe von den Einberufenen niemand erwartet, direkt in Sturmbrigaden an die umkämpftesten Frontabschnitte geschickt zu werden. Auch Freiwillige würden nicht wie versprochen etwa als Drohnenpiloten eingesetzt, so der »Economist«.

Wie der Angreifer Russland kann sich auch die Ukraine vorstellen, Gefängnisinsassen in Sturmtrupps an die Front zu schicken. Kommandeur Maksym Schorin sprach von einer »Ressource«, die man nutzen solle. So würden die Häftlinge wenigsten »irgendeinen Nutzen bringen«. Zu Wochenbeginn machten sich zwei weibliche Parlamentsabgeordnete für die Mobilisierung von Frauen stark. Auch eine komplette Grenzschließung scheint wieder im Bereich des Möglichen zu sein, um genügend Soldaten für den Abwehrkampf zu gewinnen. Trotz aller Durchhaltebekundungen scheinen viele Ukrainer nicht mehr kämpfen zu wollen. In einer nicht repräsentativen Facebook-Umfrage der Abgeordneten Marjana Besuhla waren 74 Prozent bereit, ihren ukrainischen Pass abzugeben, wenn sie dafür nicht in die Armee müssen.

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Die außer Kontrolle geratene Mobilisierung vertieft zunehmend den Graben zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und Armeechef Walerij Saluschnyj. Jener verurteilte zuletzt die Massenentlassungen regionaler Militärkommissare nach einer Reihe von Korruptionsskandalen durch den Präsidenten im Sommer. Die entlassenen Kommissare seien »Profis« gewesen, die wüssten, wie man eine Mobilisierung durchführe. Um die derzeitigen Probleme mit der Requirierung von Menschen für das Militär zu lösen, müsse man einfach die Mobilisierung in den Rahmen zurückbringen, in dem sie zuvor funktioniert habe, forderte Saluschnyj.

Stimmung im Land wird schlechter

Der Fund einer Wanze im Arbeitszimmer Saluschnyjs am Montag sorgt zurzeit für weitere Unruhe. Während Medien gleich über einen aufziehenden Skandal spekulierten, reagierten regierungsnahe Kreis sehr widersprüchlich auf den Vorfall. Die ehemalige Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar etwa deutete an, ukrainische Geheimdienste könnten hinter der Aktion stehen: »Die Mitarbeiter der Geheimdienste sind verpflichtet, nicht aus den Augen zu lassen, dass Amtsträger der nationalen Sicherheit nicht schaden.« Offiziell war hingegen von einer »Provokation« die Rede, um die politische und militärische Führung weiter zu spalten.

Die Stimmung in der Urkaine verändert sich spürbar. Bei den Menschen kommt allmählich an, dass »nicht alles so rosig ist, wie es noch vor einem Monat schien«, schrieb der ehemalige Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch bei Telegram. Das zeigt auch eine neue Umfrage des Kiewer internationalen Instituts für Soziologie von Anfang Dezember. »In der Ukraine sinkt die Zahl derjenigen, die meinen, die Dinge entwickeln sich in die richtige Richtung, weiter, auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung die Situation immer noch optimistisch einschätzt«, heißt es in der Mitteilung der Soziologen. Nur noch eine knappe Mehrheit der Befragten (54 Prozent) ist demnach überzeugt, dass sich die Ukraine auf dem richtigen Weg befindet. Im Mai 2022 waren es noch 68 Prozent. Im gleichen Zeitraum verdoppelte sich die Zahl der Ukrainer, die ihr Land nicht auf dem richtigen Weg sehen, von 16 auf 32 Prozent.

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