Gesänge gegen die Einsamkeit

Nach dem Vorbild Großbritanniens hat die Ampel-Koalition eine Strategie gegen Isolation beschlossen. Kosten soll sie nichts.

Jetzt haben wir es schwarz auf weiß: Die Bundesregierung tut etwas dagegen, dass Menschen im Land sich von aller Welt verlassen fühlen. Das Kabinett hat eine »Strategie gegen Einsamkeit« beschlossen, erarbeitet im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ). Der Aufgabenkatalog ist stattlich und umfasst »mehr als 100 Einzelmaßnahmen«. Der Clou: Für all das sind keine zusätzlichen Gelder nötig und eingeplant.

Eine der Maßnahmen ist das gemeinsame Singen. Das erfährt man zwei Tage vor Weihnachten gleich auf der Startseite des BMFSJ-Online-Auftritts. Dort ist zu lesen, dass Ressortchefin Lisa Paus (Grüne) dieser Tage zusammen mit dem Berliner Kiezchor am Berliner Hauptbahnhof »gegen die Einsamkeit angesungen« und so »das Gemeinschaftsgefühl und den Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft« gefördert hat.

Die Bundesregierung will mit der Strategie laut BMFSJ durch Kampagnen und Aktionen für das Problem »sensibilisieren«. Sie will mehr Wissen sammeln, Informationen über lokale Angebote für Einsame verbreiten und ausgewählte Modellprojekte »für Gemeinsamkeit und gemeinsames Erleben« fördern. Außerdem will sie »Best-Practice-Beispiele aus anderen Ländern« auswerten und »bereichsübergreifend an dem Thema« arbeiten.

Ablenken vom eigentlichen Problem

Darin sehen Paus und Kolleg*innen einen »wichtigen Beitrag zur Stabilisierung unserer Demokratie«. Denn Studien haben ergeben, dass einsame Menschen auch oft frustriert sind und immer wütender werden, sich also »radikalisieren«./

Auffällig ist, dass sich Regierungen den Kampf gegen Einsamkeit gerade in solchen Gesellschaften auf die Fahne schreiben, in denen Menschen durch wachsende Armut marginalisiert, also an den Rand gedrängt werden. Das hat offenkundig auch den Zweck des Ablenkens vom Problem der sich beschleunigenden Konzentration von Reichtum einerseits und der hohen Zahl Verarmter auch in den westlichen Gesellschaften andererseits. Denn thematisiert wird nicht das grundlegende Problem, sondern ein Symptom. Psychische Erkrankungen etwa infolge von Wohnungslosigkeit oder aufgrund von »Arbeitsverdichtung« und Leistungsdruck sind ein weiteres.

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Vorreiter für die Strategie der Symptomthematisierung und -bekämpfung ist Großbritannien, dessen Bevölkerung schon früher als die anderer westeuropäischer Staaten unter neoliberalem sozialem Kahlschlag litt. Die Verarmung und die Situation im Gesundheitswesen des Vereinigten Königreichs haben sich seit Beginn der Corona-Pandemie noch einmal rapide verschärft. Dagegen wird nichts unternommen. Doch schon Anfang 2018 hatte sich die auch damals schon konservative Regierung der Isolation von immer mehr Menschen angenommen – und schuf als erste weltweit ein Einsamkeitsministerium (Ministry of Loneliness), wobei es sich um die Stelle eines Unterstaatssekretärs im Ministerium für Sport, Tourismus, kulturelles Erbe und Zivilgesellschaft handelt. Die hat aktuell hat der walisische konservative Parlamentarier Stuart Andrew inne. Zuvor hatte die Regierung in London eine parlamentarische Kommission mit einer Expertise zum Problem beauftragt. Deren Abschlussbericht war die Grundlage für die britische Strategie gegen Einsamkeit, die sich die Bundesregierung zum Vorbild genommen hat.

In den Folgejahren ernannten auch andere Industriestaaten Regierungsbeauftragte für den Kampf gegen Einsamkeit. Zu nennen ist hier insbesondere Japan, wo die Suizidrate besonders hoch ist, wofür zunehmende Vereinzelung jedoch nur eine Ursache ist. Und auch anderswo gibt es immer wieder von Regierungen unterstützte Initiativen wie zum Beispiel die aktuelle Kampagne »Einfach mal Hej sagen« im Norden Schwedens. Damit wird an Anwohner appelliert, doch besonders im dunklen Winter mal bei ihren Nachbarn vorbeizuschauen und mit ihnen zu reden.

Ehrenamtliche sollen die Lücken füllen

Gemeinsam ist all diesen staatlichen Aktivitäten, dass sie vor allem darauf ausgerichtet sind, Ehrenamtliche zu motivieren und zu vernetzen. Private Organisationen wurden in der Zeit der Corona-Pandemie auch in der Bundesrepublik zuhauf gegründet. Für viele Einsame dürften sie ein Rettungsanker sein. So gibt es für über 60-Jährige das Silbernetz. Und für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gründeten Unternehmer im Mai 2020 den hauptsächlich auf ehrenamtlichen Onlinediensten basierenden Krisenchat. Dort suchen rund 350 Freiwillige jedes Jahr in Tausenden Fällen nach ganz konkreten Hilfsangeboten für ihre Schützlinge.

Dinge, die grundlegend etwas ändern würden wie eine Entlastung von Pflegekräften, Sozialarbeitenden, Lehrkräften mittels Ausbildungsoffensiven wurden jahrzehntelang vernachlässigt. Vielmehr wurde die Überlastung dieser Berufsgruppen durch die Einführung von Fallpauschalen, Zeitvorschriften für Pflegedienste und Sparvorgaben insbesondere durch die von 1998 bis 2005 amtierenden rot-grünen Bundesregierungen aktiv herbeigeführt. All verschärfte auch das Leid der Einsamen. Denn infolge all dessen fehlt Altenpflegerinnen und anderen die so nötige Zeit fürs Zuhören und Miteinander-Reden. Und so muss die Nachbarin als ehrenamtliche Seelsorgerin einspringen.

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