Streit um Linksjugend Solid

Nach dem Bundeskongress von Solid wird über Inhalte und Debattenkultur diskutiert

Auf dem Bundeskongress der Linksjugend Solid ging es hoch her.
Auf dem Bundeskongress der Linksjugend Solid ging es hoch her.

Mit rund 70 Prozent Zustimmung hat die Linksjugend Solid auf ihrem 18. Bundeskongress am vergangenen Wochenende den Antrag »Nie wieder zu einem Völkermord schweigen« angenommen. Der Beschluss sorgt für Diskussionen innerhalb und außerhalb der Linkspartei. In dem Text erklärt der Jugendverband, »versagt« zu haben. Man habe den »kolonialen und rassistischen Charakter des israelischen Staatsprojekts« nicht anerkannt und die »Verbrechen des israelischen Staates, vom Apartheidsystem bis zum Genozid in Gaza« nicht benannt. Die »Befreiung Palästinas« müsse als »Teil einer breiteren demokratischen und sozialistischen Revolution« verstanden werden.

17 Bundestagsabgeordnete der Linken, darunter Gregor Gysi, Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow, protestierten daraufhin in einem Brief an die Parteispitze gegen den Beschluss. Die Parteivorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken erklärten nach einer Sondersitzung des Parteivorstands, der Antrag sei »inhaltlich nicht mit den Positionen der Linken vereinbar«. Die Kritik an der israelischen Regierungspolitik sei »absolut notwendig«, dürfe aber »niemals den Schutz jüdischen Lebens infrage stellen oder die Existenz Israels delegitimieren«.

Aus dem Umfeld des Parteivorstandes heißt es, den Kritiker*innen aus der Fraktion gehe es primär um die Darstellung der Gründung Israels als alleiniges Problem im Nahost-Konflikt und das Rückkehrrecht für Palästinenser. Sie verstünden dies als Abkehr von der Zweistaatenlösung. Bei dem Punkt zu den Revolutionären vor Ort sei den Kritiker*innen klar, dass nicht die Hamas gemeint sei.

Der neugewählte Bundessprecher*innenrat der Linksjugend stellte in einem Statement das dem »nd« vorliegt klar: »Die Hamas ist für uns weder revolutionär noch demokratisch, geschweige denn sozialistisch.« Man wolle mit linken israelischen und palästinensischen Gruppen wie Youth Against Settlements, Mesarvot oder Al-Qaws zusammenarbeiten. Ein parallel beschlossener Leitantrag benenne diese Organisationen konkret. Der Beschluss fordere »vollständige individuelle und nationale Gleichberechtigung« aller Bevölkerungsgruppen, einschließlich des »besonderen Schutzes jüdischen Lebens«.

Auch die Kritik an der Aussage vom »kolonialen und rassistischen Charakter des israelischen Staatsprojekts« weist der Rat zurück. Israel beruhe wie andere Staaten auf Siedlerkolonialismus und setze Vertreibung sowie illegale Siedlungen fort. Wie viele westliche Staaten habe es einen rassistischen Charakter, der laut Organisationen wie Amnesty International in Apartheid münde.

Neben dem Inhalt steht auch der Umgang auf dem Kongress in der Kritik. Thüringer Delegierte berichteten über ihre Perspektive zum Kongress in einer Messengergruppe des Thüringischen Landesverbandes, in der sie erklärten, sich nicht sicher zu fühlen. Die Nachricht gelangte später an Medien. Der Bundessprecher*innenrat räumte ein, es sei »zu mehreren Fällen von grenzüberschreitendem Verhalten« gekommen – man nehme dies sehr ernst.

Eine ehemalige Sprecherin des Jugendverbandes, mittlerweile Mitglied der LAG Shalom, kritisiert, dass über die Tagesleistung nicht im Block, sondern einzeln abgestimmt wurde und somit israelsolidarische Aktivist*innen nicht gewählt wurden. Die verbale Radikalisierung antiimperialistischer Gruppen wie BAK Klassenkampf und Agitprop zeuge von Frustration über eigene Ohnmacht und diene dazu, durch interne Kämpfe ein Gefühl des Erfolgs zu erzeugen.

Besonders der Bundesarbeitskreis AgitProp sticht mit radikalen Aussagen hervor. In einer Stellungnahme sprach die Gruppe von einem »neuen, roten Morgen für die Linksjugend« und kritisierte, solid »fröhnte dem Parlamentarismus«. 15 ehemalige Mitglieder des Bundessprecher*innenrats sowie die Linksjugend Sachsen haben in einem offenen Brief den Umgang auf dem Kongress kritisiert. Sie sprechen von »Autoritarismus« und einer »Debattenkultur, die Andersdenkende ausgrenzt«. Solid Sachsen spricht gar von »antisemitischem eliminatorischen Antizionismus«.

Ein Mitglied des BAK Klassenkampf, der den Antrag mittrug, bestätigt »nd«, dass es Einschüchterungen gegeben habe. Zugleich habe es solche Situationen und gezielte Störungen auch von der Gegenseite gegeben. Eine Aufarbeitung halte er für richtig. Mit 70 Prozent Zustimmung zum erwähnten Antrag hatten auch die Antragssteller*innen nicht gerechnet. Auf die Frage, warum die lokalen Revolutionäre nicht einfach detailliert aufgelistet wurden, entgegnete er entnervt, wie oft man sich denn noch von Hamas distanzieren solle. Es müsse doch mittlerweile klar sein, wer gemeint sei.

Diese Aussage ist symptomatisch für das Hauptproblem dieses innerlinken Konflikts jenseits tatsächlicher Ideologien und Positionen – die Schwäche in der Kommunikation und die vermeintliche Sicherheit zu wissen, was »die anderen« wirklich meinen.

Ein zusätzlicher Faktor für die Zuspitzung war wohl die Zusammensetzung des Kongresses. Mehr als die Hälfte der Delegierten nahm zum ersten Mal an einem Bundeskongress teil. Die Pandemie und das verkürzte Wahljahr führten dazu, dass Akademien und physische Treffen ausfielen und bestehende Strukturen, Verbandswissen und Funktionsweisen nicht adäquat weitergegeben werden konnten. Der interne Austausch beschränke sich oft auf harte Diskussionen im eigenen Online-Forum, was die Debattenkultur verändert habe, so eine ehemalige Sprecherin.

Der Parteivorstand hat mit Vertreter*innen der Linksjugend vereinbart, die Vorgänge aufzuarbeiten. Die Schaffung von Räumen des direkten Austauschs ist dazu notwendig. In Zeiten des Genozids in Gaza ist es verständlich, dass palästinasolidarische Positionen Zuwachs erhalten und somit alte Mehrheitsverhältnisse sich ändern. So ist von beiden Seiten dennoch eine verbale Abrüstung im Miteinander Gebot der Stunde.

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