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Karl und Rosa: Und wieder fließt Blut

Berliner Polizei attackiert Demonstranten bei der traditionellen Liebknecht-Luxemburg-Ehrung

Polizisten sind in den Demonstrationszug hineingestürmt. Mittendrin versucht der Abgeordnete Koçak, noch Schlimmeres zu verhüten.
Polizisten sind in den Demonstrationszug hineingestürmt. Mittendrin versucht der Abgeordnete Koçak, noch Schlimmeres zu verhüten.

Am Sonntag gegen 11 Uhr biegt die Spitze der traditionellen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration schon links ab zur Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde. Bis zu den Gräbern der 1919 ermordeten KPD-Gründer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ist es nicht mehr weit. Doch plötzlich entsteht eine Lücke. Der Marschblock der Organisation Kommunistischer Aufbau wendet und kehrt im Laufschritt zurück zum größeren Teil des Demonstrationszuges, der ein ganzes Stück vor dem U-Bahnhof Magdalenenstraße angehalten hat.

Denn hier fischte die Polizei einen Palästinenser heraus, der via Lautsprecherwagen die Losung »From the river to the sea, Palestine will be free« durchgegeben haben soll. Das heißt übersetzt: »Vom Fluss bis zum Meer, Palästina wird frei sein.« Die Polizei wertet diese alte Parole inzwischen als Volksverhetzung. Es wird argumentiert, bei einem Staat Palästina, der sich vom Jordan bis zum Mittelmeer erstreckt, wäre kein Platz mehr für Israel. Die Beamten stellen die Personalien des Mannes fest und lassen ihn dann gehen, schließen ihn allerdings von der Demonstration aus – so zumindest die Auskunft, die Linke-Politiker Ferat Koçak erhält.

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Der Vorfall führt dazu, dass ganz viele Demonstranten im Chor rufen: »From the river to the sea, Palestine will be free.« Außerdem: »Ganz Berlin hasst die Polizei.« Das nehmen die Beamten zunächst mit unbewegten Gesichtern hin. Gerade soll es endlich weitergehen, da fühlen sich Polizisten eingekesselt, weil sie zwischen zurückkommende und aufbrechende Demonstranten geraten. Die Beamten reagieren mit roher Gewalt. Sie zerren an Transparenten, schubsen und schlagen Demonstranten und werfen mindestens drei Menschen zu Boden, darunter eine Frau. Auf zwei Personen knien Beamte und fesseln ihnen die Hände auf dem Rücken. Einige wenige Demonstranten wehren sich gegen die rohen Attacken. Die Mehrzahl skandiert lediglich: »Wir sind friedlich. Was seid ihr?«

Ein grauhaariger Mann erhält Faustschläge ins Gesicht, blutet heftig aus der Nase und geht bewusstlos zu Boden. Mehrere Rettungssanitäter kümmern sich um diesen Patienten, dessen Zustand offenbar sehr ernst ist. Der Berliner Abgeordnete Koçak ist fassungslos. »Die Polizei hat die Demo angegriffen«, sagt er. »Ein 65-jähriger Mann ist im Koma, ist zusammengebrochen.« Der Abgeordnete bekennt tief erschüttert: »Ich könnte weinen.« Eine gute Nachricht gibt es dann immerhin noch. Nach bangen Minuten öffnet das Opfer seine Augen und spricht mit den erleichterten Rettungskräften, die seinen Kopf stützen und es mit einer Metallfoliendecke gegen die Kälte schützen. Ein paar Schritte weiter stehen Polizisten mit völlig unbeteiligten Gesichtern, als gehe sie das alles überhaupt nichts an.

Nach gut einer Stunde laufen die Demonstranten weiter. Sie bleiben jetzt ganz eng beieinander. Inmitten junger Leute mit roten Fahnen läuft auch ein älteres Paar. Beide haben kleine Pappschilder mit liebevoll aufgemalten Friedenslosungen aufgehoben, die bei den Zusammenstößen demoliert worden sind. »Wir bringen die jetzt noch ans Ziel, wenn die Menschen selbst es nicht mehr können«, erklärt die Frau. Sie möchte die Schilder an den Gräbern von Karl und Rosa niederlegen.

Früh am Morgen hat das stille Gedenken trotz eines unangenehmen Nieselregens noch verheißungsvoll begonnen. Bevor der Linke-Bundesvorsitzende Martin Schirdewan mit andenen Spitzen von Bundes- und Landesverband seiner Partei mit Kränzen auf den Friedhof schreitet, bricht sogar kurz die Sonne durch. Nur Brandenburgs Linksfraktionschef Sebastian Walter ist bedient. Es war für ihn ein Schock, als er im Kofferraum seines Autos den Kranz erblickte, den ein Praktikant für ihn besorgt hatte: statt roter Nelken und roter Schleife, wie es sich gehört, gelbe Blumen und eine grüne Schleife. Walter muss erst einmal eine Zigarette rauchen, um sich zu beruhigen. Dann kann er das Missgeschickt einigermaßen mit Humor nehmen. Aber es fällt ihm schwer.

In Brandenburg ist am 9. Juni Kommunalwahl und am 22. September Landtagswahl. Doch Walter legt Wert auf die Feststellung, der Termin am Sonntag solle für ihn nicht der Auftakt zu einem erfolgreichen Wahljahr sein. Auch die Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch (Linke) erklärt: »Ich mache keinen Wahlkampf, ich mache meine Arbeit.« Am 11. Februar wird in 455 von 2256 Berliner Wahlbezirken die Bundestagswahl wiederholt, die im September 2021 im Chaos versunken war. In Lötzschs Wahlkreis in Lichtenberg sind allerdings nur sechs Wahllokale betroffen. Um ihr Direktmandat muss sie sich also keine Sorgen machen.

Die Gedenkstätte der Sozialisten liegt im Bezirk Lichtenberg. Lötzsch ist jedes Jahr an den Gräbern von Karl und Rosa zu finden. Seit 2005 ist auch Sebastian Walter jedes Jahr hier. Beim ersten Mal war er 14 Jahre alt.

Seit 1990 kommt Burkhard Zimmermann – immer mit einer historischen SPD-Fahne. Zimmermann ist jetzt 73 Jahre alt und seit 40 Jahren Vorsitzender des SPD-Ortsvereins Dahlem. Als linker Sozialdemokrat ist er der nd.Genossenschaft beigetreten, die auch einen Kranz niederlegt. Am Eingang zum Friedhof lernt Zimmermann Gero Gewald kennen. Der 26-Jährige ist Vorsitzender der Jusos im Landkreis Oberhavel und zum ersten Mal hier. »Ich wollte es mir einfach mal ansehen.«

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