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Notfallversorgung in Not

Kassenärzte befürchten zusätzliche Belastungen durch Reformprojekt

Zu früh gefreut über die kommende Reform? Gesundheitsminister Karl Lauterbach und Burkhard Ruppert, Vorstand der KV Berlin, vor der Leitstelle des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes
Zu früh gefreut über die kommende Reform? Gesundheitsminister Karl Lauterbach und Burkhard Ruppert, Vorstand der KV Berlin, vor der Leitstelle des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes

»Wir warten schon sehr, sehr lange auf eine Reform der Notfallversorgung.« So lautet einer der ersten Sätze von Burkhard Ruppert, dem Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin, bei einer Pressekonferenz am Dienstag in der Hauptstadt. Anlass war die Vorstellung von Eckpunkten zur Notfallreform durch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Der Ort des Geschehens war nicht nur aufgrund der räumlichen Nähe zum Ministerium gewählt worden. Lauterbach selbst begründete seinen Vor-Ort-Termin in der KV damit, dass hier in Sachen Notfallversorgung schon zu 80 Prozent das gemacht werde, was ein künftiges Gesetz vorgeben soll.

Die Leitidee des Ministers für die Reform dürfte kaum in Frage gestellt werden: Demnach sollen Patienten im Notfall dort behandelt werden, wo sie am schnellsten und besten versorgt werden – und das müsste nicht immer das Krankenhaus sein. Nur wie soll das bewerkstelligt werden? Lauterbach möchte unter anderem die Terminservicestellen der KVen ausbauen und mit den Rettungsleitstellen vernetzen. Genau das passiert in Berlin bereits: Ruft man für akute Beschwerden außerhalb der Praxiszeiten die 116117 an, gibt es gleich anfangs die Alternative, nicht den Notdienst zu erreichen, sondern einen Termin bei einem niedergelassenen Arzt zu vereinbaren. In Zukunft soll das also bundesweit üblich werden.

Wer aber genau weiß, dass er den Notdienst braucht, den dürften Ansage und Auswahlmöglichkeit irritieren. Offenbar ist aber eines der Grundprobleme sowohl bei der Notfallversorgung als auch noch vielmehr beim Rettungsdienst (der von der Feuerwehr organisiert wird) und bei den Notaufnahmen der Krankenhäuser, dass ein großer Teil der Hilfesuchenden nicht weiß, wo er hingehört. Viele Patienten nutzen die Notfallnummer 112 auch bei kleineren und chronischen Erkrankungen.

Das ist auch dem Gesundheitsminister geläufig, er nennt 25 bis 30 Prozent der Patienten, die nicht in die Notaufnahmen der Kliniken gehörten. Aus seiner Sicht soll die Lenkung allgemein in Zukunft flächendeckend über Integrierte Notfallzentren (INZ) laufen. Das wären dann Einrichtungen, bei denen eine Notaufnahme und eine KV-Notdienstpraxis in der Nähe eine zentrale Ersteinschätzung an einem gemeinsamen Tresen vornehmen. Für diese Zentren werden in den Eckpunkte auch schon Öffnungszeiten genannt, hauptsächlich an Sonn- und Feiertagen, in der Woche vor allem dann, wenn die Arztpraxen geschlossen sind, jedoch in allen Fällen nur bis 21 Uhr.

INZ und auch der aufsuchende Notdienst sollen in Zukunft Krankschreibungen ausstellen, so eine Reformidee. Dann müssten Patienten nach der Behandlung nicht noch einmal eine Hausarztpraxis für die Krankschreibung aufsuchen. Ein solcher »Abschluss« der Fälle könnte unter dem Strich eine Einsparmöglichkeit sein. Lauterbach sieht solche Möglichkeiten schon sehr sicher. Zurzeit können in Berlin in den Telefonaten, bei denen ein Arzt die Hilfesuchenden berät, zwei Drittel der Fälle geklärt werden: Weder ein schneller Folgetermin bei einem Mediziner ist nötig noch der Weg in die Notfallaufnahme. Der Nachteil für die KV: Diese Gespräche sind nicht abrechenbar und tragen dazu bei, dass die Notfallversorgung defizitär arbeitet.

Damit ist noch einmal das Problem »Fehlinanspruchnahme« genannt. Rupperts Erwartung in dieser Beziehung wird vom Eckpunktepapier nicht erfüllt, er fürchtet zusätzliche Belastungen für die Kassenärzte, etwa durch mehr Bereitschaftsdienste in der Telemedizin.

Zur Notfallreform gehört laut Minister auch, dass die Notdienstnummern von Rettungsdienst und KVen vernetzt werden. Auch das wird in Berlin schon seit einigen Jahren praktiziert: Der kassenärztliche Notdienst übernehme von der Feuerwehr im Schnitt 140 Patienten am Tag, umgekehrt seien es 70 Patienten, erläutert KV-Chef Ruppert. Dies sorgt dafür, dass die Berliner Notaufnahmen schon um einiges entlastet werden.

Dort kommen zusätzlich jene Menschen an, die sich noch mit eigener Kraft dorthin begeben, berechtigt oder nicht. Im Warteraum nehmen sie in der Regel nicht wahr, dass von der Feuerwehr Menschen in lebensgefährlichem Zustand eingeliefert werden – und wundern oder ärgern sich über lange Wartezeiten. Für den Rettungsdienst selbst wird es jedoch, ebenfalls in diesem Jahr, ein eigenes Gesetzesprojekt geben. Das Gesetz zur Notfallreform soll im ersten Halbjahr im Bundeskabinett verabschiedet werden und im Januar 2025 in Kraft treten.

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