»Wir wollen uns nicht von Syrien abspalten«

Khaled Davrisch, Vertreter der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Deutschland, über den neuen Gesellschaftsvertrag

  • Interview: Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 5 Min.

Sie vertreten die »Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien«, ein autonomes Gebiet, in dem Araber, Kurden und viele weitere Religionen und Ethnien leben. Wie kam es dazu?

Wer an Syrien denkt, hat meist Bürgerkrieg, Flucht und islamistischen Terror vor Augen. Zu Recht, denn seit mehr als einem Jahrzehnt bringt die syrische Tragödie viel Leid über die Menschen und ihr Land. Undemokratische Politik, Unterdrückung und staatlicher Autoritarismus prägen Syrien schon viel zu lange. Hunderttausende haben ihr Leben verloren, Millionen mussten fliehen. Inmitten dieser Krise ist es den Menschen im Norden und Osten des Landes jedoch gelungen, eine demokratische Selbstverwaltung aufzubauen. Die Bilder unseres Kampfes gegen den sogenannten Islamischen Staat gingen um die Welt. Ausgehend vom Kampf um die Stadt Kobanê konnten wir die Terroristen zurückdrängen. Das Kalifat des IS ist seitdem Geschichte.

Die Gebiete, die Sie vertreten, kennen viele als Rojava. Das wurde offiziell geändert. Warum?

Sie haben recht. Früher waren unsere Gebiete unter dem kurdischen Namen Rojava bekannt. Durch den Kampf gegen den IS wurden jedoch auch Gebiete befreit, in denen viele Araber*innen leben. Vielfalt prägt das Zusammenleben in Nord- und Ostsyrien. Christ*innen beten neben Muslim*innen, Jesid*innen und vielen anderen. Zudem finden hunderttausende Binnenvertriebene in unseren Gebieten Schutz. Um das abzubilden, nennen wir uns nun »Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien«. Grundlage unseres Zusammenlebens ist keine Verfassung, sondern ein Gesellschaftsvertrag. Denn wir wollen uns nicht von Syrien abspalten, wir wollen keinen eigenen Staat gründen. Seit 2018 wurde eine Neufassung des Vertrages diskutiert, denn die bisherige Fassung wurde noch ohne die arabischen Regionen Raqqa, Tabqa, Manbidsch und Deir Ez-Zor verabschiedet. Während der Überarbeitung marschierte die Türkei mehrmals in unsere Gebiete ein, islamistische Milizen herrschen mittlerweile in Afrin und auch in meiner Heimatstadt Serê Kaniyê.

Wirken sich die regelmäßigen Angriffe der türkischen Armee nicht auf den Fortbestand der Selbstverwaltung aus?

Interview

Khaled Davrisch ist Vertreter der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Deutschland. Die Vertretung hat den neuen Gesell­schafts­­vertrag in deutscher Übersetzung veröffentlicht: nordundostsyrien.de/neuer-gesellschaftsvertrag

Weder diese Angriffe noch die Corona-Pandemie, die Klimakrise oder die Wirtschaftskrise in ganz Syrien haben unsere Gesellschaft von ihrem Weg abgebracht. Im Dezember wurde der überarbeitete Gesellschaftsvertrag ratifiziert. Gleiche Rechte und Demokratie für alle – so könnte das Motto lauten. Männer und Frauen, Kurden, Araber, Assyrer, Turkmenen, Armenier, Tscherkessen, Tschetschenen, Muslime, Christen und Jesiden: Die Bevölkerungsgruppen in Nord- und Ostsyrien leben gleichberechtigt. Sie haben das Recht, ihre Kulturen zu leben, sich selbst zu organisieren und sind zusammen in unserem demokratischen System vertreten. Die Selbstverwaltung hat Arabisch, Kurdisch und Aramäisch, die Muttersprache von Jesus, als gleichberechtigte Amtssprachen angenommen.

Wie garantieren Sie eine basisdemokratische Mitsprache der Menschen?

Unser basisdemokratiches System ist einzigartig und wird im überarbeiteten Gesellschaftsvertrag konkret ausgestaltet. Ausgehend von der Basis, von den Nachbarschaften und Dörfern, über die Städte und Kantone bis hin zum »Demokratischen Rat der Völker« sieht der Gesellschaftsvertrag ein Rätesystem vor. Die Räte sind eine Mischform aus direkt gewählten Vertreter*innen der Bevölkerung und organisierten gesellschaftlichen Gruppen, wie Ethnien, Glaubensgemeinschaften, Jugend und Frauen.

Frauen spielen eine wichtige Rolle in der Selbsverwaltung. Wird der neue Gesellschaftsvertrag ihre Rolle stärken?

Ihr Wille als Waffe – 10 Jahre Frauenrevolution Rojava

Ein Podcast, der dich anlässlich des zehnjährigen Jubiläums mit auf die Reise zur Frauenrevolution in Rojava nimmt. Innerhalb von sechs Folgen besuchst du gemeinsam mit Linda Peikert Orte, die im Zuge der Befreiung der Frau erst möglich wurden. Wer sind die Frauen, die gegen den IS und für ihre Rechte kämpfen? dasnd.de/rojava

Die entscheidende Rolle von Frauen in Nord- und Ostsyrien kann nicht genügend betont werden. Schutz vor patriarchaler Gewalt, wirtschaftliche Unabhängigkeit und politische Partizipation – Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern ist eines der wichtigsten Anliegen der Selbstverwaltung. Um diese zu erreichen, organisieren sich Frauen überall in eigenen Räten. Der Frauenrat von Nord- und Ostsyrien wird im überarbeiteten Gesellschaftsvertrag damit beauftragt, einen eigenen Gesellschaftsvertrag der Frauen zu erarbeiten. Eine erste Konferenz, um diesen Frauenvertrag zu diskutieren, wird bereits geplant. Durch die Selbstorganisierung aller gesellschaftlichen Gruppen wollen wir sicherstellen, dass die Selbstverwaltung eine Sache der Gesellschaft ist und bleibt, jenseits eines zentralistischen Nationalstaates. Dies ist ein weiterer wichtiger Aspekt des Gesellschaftsvertrags: Er ist ein Schritt in die Zukunft Syriens, ein Vorschlag für einen Ausweg aus der Syrienkrise.

In Syrien herrscht weiter Krieg, und es sieht nicht danach aus, dass sich die Situation grundlegend ändern könnte. Wie sehen Sie unter diesen Umständen die Zukunft der Selbstverwaltung?

Wie bereits erwähnt, beabsichtigt die Selbstverwaltung nicht, sich von Syrien abzuspalten. Das heißt aber nicht, dass sich nichts ändern muss. Bereits 2015 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat einstimmig eine Roadmap für eine politische Transition in Syrien, die Resolution 2254. Passiert ist seitdem kaum etwas. Im Gesellschaftsvertrag artikulieren die Menschen in Nord- und Ostsyrien ihre Vorstellung dieses politischen Übergangs: Ein friedlicher Dialog zwischen allen Syrer*innen, ein verfassungsgebender Prozess, der den autoritären Zentralstaat demokratisiert und dezentralisiert. Im Süden des Landes protestieren die Drus*innen seit August 2023 für ähnliche Ziele.

Ist ein solcher verfassungsgebender Prozess realistisch?

Wir wünschen uns ein Syrien, in dem alle Bevölkerungsgruppen friedlich zusammenleben, miteinander und füreinander. Ein Syrien, in das Geflüchtete in Würde zurückkehren können. Ein Syrien, in dem die Ressourcen gerecht verteilt werden. Ein Syrien ohne türkische Besatzung, ohne islamistischen Terror. Das scheint in weiter Ferne. Umso wichtiger ist der demokratische Prozess in Nord- und Ostsyrien. Der neue Gesellschaftsvertrag ermöglicht gleiche Rechte für alle. Er ist damit ein Zeichen der Hoffnung inmitten der syrischen Tragödie, ein möglicher Weg hin zu Stabilität und Frieden in Syrien.

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