Das Politbüro in der Zwickmühle

Rückblick in Farbe: Egon Krenz erinnert sich aus nächster Nähe an Erich Honecker und Genossen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.
Spannung zwischen zwei Männern: Der alte und der neue Generalsekretär der SED, Erich Honnecker und sein Nachfolger Egon Krenz, Berlin, 25. Oktiber 1989
Spannung zwischen zwei Männern: Der alte und der neue Generalsekretär der SED, Erich Honnecker und sein Nachfolger Egon Krenz, Berlin, 25. Oktiber 1989

Er habe keine Klingel, schreibt er zu Beginn des Buches. Wenn er nicht gerade Besuch habe, stehe seine Tür für Gäste offen. Auch bei der Lektüre dieses Buches ist es, als ob Egon Krenz einem gegenübersitzen würde, wenn er aus seinem Leben erzählt. Er spricht von seinen Erfahrungen, äußert seine Meinung, polemisiert gegen die Diffamierung von DDR-Biografien und wird damit vielen aus dem Herzen sprechen.

Er bekennt sich zur DDR als »Alternative zu einem Deutschland, das für zwei Weltkriege und die grausame faschistische Diktatur verantwortlich war«, hebt hervor, dass 4142 Nazi- und Kriegsverbrecher enteignet und »520 000 ehemalige Nazis aus öffentlichen Ämtern entfernt« wurden. Höhere Bildung nun auch für Arbeiter- und Bauernkinder, Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, Streichung des Paragrafen 175 aus dem Strafgesetzbuch … Und kein NVA-Soldat hat seinen Fuß auf fremdes Territorium gesetzt, um an Kampfeinsätzen teilzunehmen.

Dieses Buch wird viel Zuspruch erleben, aber auch auf Ablehnung und Verschweigen treffen. Wenn Konrad Adenauer mit dem Zug nach Westberlin fuhr, soll er die Vorhänge zugezogen haben, um die »asiatische Steppe« nicht zu sehen. »Für ihn begann hinter der Elbe Sibirien«. Dies aber ist ein Statement für den Osten – und eine persönliche Rückschau – auf staunenswerte Weise detailliert. In Farbe, nicht in Schwarz-Weiß. Aufrichtig und ehrlich tritt einem Egon Krenz gegenüber. Er will gerecht sein, niemanden diffamieren und doch bleibt bei all dem die Frage, warum die DDR zusammenbrach, ob man etwas anders hätte machen können.

1974 zum 1. Sekretär des Zentralrats der FDJ gewählt, 1976 Kandidat und 1983 Mitglied des Politbüros – als jüngster unter den alten Männern, wurde er ein Vertrauter Erich Honeckers. Aus nächster Nähe hat er dessen Bemühungen und Probleme gesehen. Was in der Öffentlichkeit nicht kommuniziert wurde: Die auf dem VIII. Parteitag ehrgeizig formulierten sozialpolitischen Ziele wurden immer schwerer finanzierbar, weil die Arbeitsproduktivität nicht in entsprechendem Umfang stieg.

»Ihr wollt von uns Erdöl, Getreide, Rohstoffe. Und was macht ihr damit? Verschenkt es. Erhöht die Löhne, verbessert die Renten, führt kürzere Arbeitszeiten ein, gebt den jungen Leuten zinsfreie Kredite und erweitert den Erholungsurlaub statt in die Industrie zu investieren. Und was noch viel schlimmer ist: Ihr verkauft unsere Lieferungen gegen Devisen an den Westen.« Was der sowjetische Ministerpräsident Alexej Kossygin ihm gegenüber schon 1976 monierte, blieb ein grundlegendes Problem. »Wenn wir in unseren Läden so wenig Waren hätten wie sie in Moskau, könnten wir die DDR gleich aufgeben«, entgegnete Honecker, dem er von diesem Gespräch berichtete.

Im Zeitraum zwischen 1974 und 1988, den dieser zweite Erinnerungsband von Egon Krenz umfasst, ballte sich somit ein ganzes Knäuel von Schwierigkeiten zusammen. Kossygin hatte Recht: Die DDR hungerte nach Devisen. Doch nicht nur deshalb setzte die Partei- und Staatsführung auf Verbesserung der Beziehungen zur BRD. Für den gebürtigen Saarländer Erich Honecker war Entspannungspolitik im Sinne des Friedens Herzenssache. Ehrgeizig strebte er nach diplomatischen Erfolgen und ärgerte sich, wenn er in Moskau ausgebremst wurde.

Zwischen DDR und BRD verlief die Grenze zweier Machtbereiche. Besondere innerdeutsche Beziehungen waren in Moskau nicht erwünscht. Jeder Versuch einer Öffnung – sei es durch Reiseerleichterungen oder die Schaltung von Telefonleitungen gen Westen – wurde kritisiert. Immer wieder wurden Honecker Steine in den Weg gelegt, wenn er sich mit bundesdeutschen Politikern treffen wollte. Das war so unter Breschnew, unter Andropow, Tschernenko und auch unter Gorbatschow, der sich später die deutsche Einheit zugutehielt. Dass er den sozialistischen Ländern mehr Eigenständigkeit zugestehen wollte, hält Egon Krenz für eine Legende.

Selbst »frei von gesamtdeutschen Gefühlen«, hatte Egon Krenz allerdings Achtung vor dem gewieften Taktiker Honecker, den es zunehmend ärgerte, nicht »Herr im eigenen Hause« zu sein. »Honecker ging es nicht um die Trennung von Moskau. Er wollte nur auf Augenhöhe wahrgenommen werden.« Kein Zweifel an der Notwendigkeit des Warschauer Paktes, aber wirtschaftlich gab es Differenzen, was die Finanzierung der sowjetischen Streitkräfte in der DDR, die Preise für Rohstoffe und deren Lieferung betraf. »Kann uns die Sowjetunion ökonomisch helfen oder sind wir auf Kooperation mit dem Westen angewiesen?«

Breschnew warf Honecker nationalen Hochmut vor. Die UdSSR stand damals bezüglich des Lebensstandards fast an letzter Stelle innerhalb der sozialistischen Länder. 1981 ließ Breschnew mitteilen, dass die sowjetischen Erdöllieferungen um zwei Millionen Tonnen gekürzt werden müssten, um den Export in kapitalistische Länder zu erhöhen. Die Ursache lag in einer neuen Runde des Wettrüstens mit den USA und in drei Missernten hintereinander. Die Konsequenz war, dass in der DDR eine neue Energiestruktur zugunsten der Rohbraunkohle geschaffen werden musste – mit entsprechenden Folgen für die Umwelt.

Wie die »führenden Genossen« ständig in einer Zwickmühle waren, verschärft durch selbst gemachte Probleme und persönliches Gerangel – vieles, was man bisher nicht wusste, wird in diesem Buch enthüllt. »Erich, war denn das notwendig?«, fragte Kurt Hager nach der Biermann-Ausbürgerung am 16. November 1976, über die Honecker ganz allein entschieden hatte. »Ihr wisst, wie kritisch die sowjetischen Genossen unsere gegenwärtige Politik gegenüber Bonn beurteilen«, bekam er zur Antwort. »Sollen wir uns wegen Biermann mit der SU anlegen?«

Es war ein ständiges Lavieren zwischen den Großmächten, in Bonn ebenso. Die beklagenswerte Informationspolitik in der DDR hing auch mit den Westmedien zusammen. Man wollte keine ideologische Munition liefern und ließ die Bürger bei brisanten Fragen oft im Unklaren. Fehler gab man nicht zu. Mir als Literaturredakteurin im »Zentralorgan« ist das manchmal wie der Versuch von Wortmagie vorgekommen: Als ob sich durch Beschwörung Erfolge einstellen würden.

Honeckers Ambitionen lagen vornehmlich in der Außenpolitik, wie es im Buch heißt. Da fällt ein kritischer Blick auf Günter Mittag, der als Leiter der Wirtschaftskommission weitgehende Vollmachten besaß, Minister und Kombinatsdirektoren kommandierte. Der Milliardenkredit, im Sommer 1983 eingefädelt von Franz Josef Strauß und Alexander Schalck-Golodkowski, dem Chef der Abteilung Kommerzielle Koordinierung im Ministerium für Außenhandel der DDR, verschaffte der DDR erst einmal eine Atempause. Wirtschaftlich. Politisch aber herrschte Eiszeit. Gegen die Proteste und Streiks in Polen verhängte Wojciech Jaruzelski von 1981 bis 1983 das Kriegsrecht, nicht zuletzt auf sowjetischen Druck. Dass er die Welt vor einer militärischen Auseinandersetzung bewahrt habe, meint Egon Krenz. Am 22. November 1983 sprach sich der Bundestag für die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik aus. Einen Tag später brach die UdSSR die Abrüstungsverhandlungen ab. Nichts würde von Deutschland übrigbleiben, wenn es zu einem Krieg käme. Dagegen wollte Honecker eine eigene DDR-Friedensstrategie entwickeln, eine »Koalition der Vernunft« mit der BRD. »Ihm schwebte eine DDR vor, die Mittler zwischen dem Westen und der Sowjetunion hätte sein können.«

Am 25. November 1983 wurde Egon Krenz zum Sekretär des ZK nominiert, verantwortlich für Sicherheit, Jugend, Sport, Staats- und Rechtsfragen. 1984 wurde er zum Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates. Weil er Gorbatschows Politik nicht pauschal verurteilte, fing Honecker an, ihm zu misstrauen. Von den Moskauer Überlegungen, einen Berliner Neuanfang betreffend, dürfte dieser gewusst haben. Sein Plan stand fest, auf dem XII. Parteitag der SED 1990 wiedergewählt zu werden.

»Wir beurteilten das, was aus Moskau kam, allzu oft mit einer Selbstschmeichelei, für die es absolut keinen Grund gab«, heißt es im Buch. Aber während Gorbatschow nach einem Weg aus der wirtschaftlichen und politischen Krise suchte, hätte er die Hilfe aller Verbündeten gebraucht. »Niemand vermag heute zu sagen, wie sich die Welt und die DDR entwickelt hätten, wenn die sozialistischen Staaten eine gemeinsame Konzeption für eine wirkliche sozialistische Erneuerung entwickelt hätten.«

Egon Krenz: Gestaltung und Veränderung. Erinnerungen Band 2, Edition Ost, 446 S., geb., 26 €.
nd-Literatursalon mit Egon Krenz am 31. Januar, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin

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