Eva Szepesi beim Holocaust-Gedenktag: Nie wieder ist jetzt

Eva Szepesi berichtete im Bundestag über ihre Zeit im Vernichtungslager Auschwitz

  • Lesedauer: 5 Min.

Geboren bin ich am 29. September 1932 als Diamant Eva, in einem Vorort von Budapest. Ich hatte eine glückliche Kindheit mit meinen lieben Eltern, meinen Großeltern und meinem kleinen Bruder Tamás, bis zu meinem sechsten Lebensjahr. (…) Mein Vater musste 1942 wie fast alle jüdischen Männer zum Arbeitsdienst, Munkaszolgálat. Sie bekamen keine Uniform, nur eine gelbe Armbinde die sie als Juden kennzeichnete. Unter Quälereien und Misshandlungen mussten sie diesen Arbeitsdienst verrichten. Ich sah ihn nie wieder.

Am 19. März 1944 besetzten die Deutschen Ungarn. Ich spürte eine starke Unruhe bei meiner Mutter und Tante Piri. Die Tante lebte seit Anfang 1943 bei uns, nachdem sie aus der Slowakei geflohen war. Dass meine Großeltern und weitere Familienmitglieder, schon 1942 aus der Slowakei deportiert und ermordet wurden, erfuhr ich erst viele Jahre später.

Ab dem 5. April waren wir verpflichtet, den gelben Stern zu tragen. Eines Tages nahm meine Mutter mich zu sich und erklärte mir, dass ich mit Tante Piri heimlich über die Grenze in die Slowakei gehen würde. Ich sollte mich taubstumm stellen. Beim Abschied auf dem Bahnsteig drückte mich meine Mama, so fest an sich, dass ich fast keine Luft mehr bekam. Tränen standen in ihren Augen. Ich wollte sie trösten. Ich verstand gar nicht, warum sie so traurig war, wo sie doch bald nachkommen würde. Schnell umarmte ich noch meinen kleinen Bruder Tamás, bevor ich in den Zug stieg.

Ich ahnte damals nicht, dass ich sie zum letzten Mal sah. Nach der lebensgefährlichen Flucht über die Grenze, verließ mich auch noch meine Tante, nachdem sie mich fremden Menschen übergab. Zuletzt lebte ich bei zwei älteren Schwestern. Ich wartete immer noch täglich auf ein Lebenszeichen von meiner Mutter. Vergeblich.

Ich fühlte mich relativ sicher – bis zu jener Nacht, in der ich durch lautes Klopfen aus dem Schlaf gerissen wurde. Das Gebrüll lauter Männerstimmen drang durch die Wohnung: »Zusammenpacken! Mitkommen!« Ich zog mich weinend an. Dann stand ich auch schon im Wohnzimmer drei Uniformierten gegenüber. Plötzlich bemerkte ich, dass ich meine Puppe Erika, im Bett vergessen hatte. Verzweifelt redete ich auf die Männer ein, aber ich durfte sie nicht mehr holen.

Sie brachten uns in ein jüdisches Altersheim, von dem täglich Transporte ins Sammellager Sered gingen. Von dort wurde ich dann mit dem letzten Transport, deportiert. Im überfüllten Viehwaggon, wurde die Luft immer weniger. Mein Hunger immer quälender. Meine Angst immer größer.

Plötzlich stoppte der Zug. Die Waggontüren wurden aufgerissen. Scheinwerferlicht blendete mich. Lautes Gebrüll der SS-Männer mit Lederpeitschen, mischte sich mit dem scharfen Bellen der Schäferhunde. Eiseskälte schlug mir entgegen. Zitternd stand ich am 2. November 1944 auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau.

Damals ahnte ich nicht, dass meine Mama und mein siebenjähriger Bruder Tamás bereits vier Monate vorher auch dort angekommen und direkt nach der Ankunft vergast wurden. (...) Am nächsten Morgen folgte die Registrierung. Man trieb uns ganz früh aus den Baracken hinaus in den Schnee. Ich war vollkommen verstört. Plötzlich tauchte eine Aufseherin direkt neben mir auf. Sie flüsterte mir mit energischer Stimme ins Ohr: »Du bist 16 und versuche dich ja nicht jünger zu stellen.« Ich war doch erst zwölf, sollte ich lügen?

Ich wurde weitergeschoben und stand auch schon vor einem der Tische. Ein strenges Gesicht schaute mich an: »Name?« »Eva Diamant« flüsterte ich. »Wie alt?« Zögernd antwortete ich: »16.« Dann wurde mir eine Nummer auf meinen linken Unterarm tätowiert. Ab diesem Zeitpunkt war ich nur noch die Nummer A-26877.

Zu den stundenlangen Appellen draußen im eiskalten Schnee, wo mir die Finger und Zehen erfroren, kamen noch die Misshandlungen dazu. Ich wurde immer schwächer, lag auf der Pritsche und nahm kaum noch wahr, was um mich herum geschah.

Eines Tages bekam ich mit, dass die Deutschen alle Häftlinge zusammentrieben. »Raus! Aufstellen! Los! Marsch!« Ich blieb liegen, hatte keine Kraft mehr zu reagieren. Dann war es auf einmal still in der Baracke. Neben mir lagen noch einige Frauen regungslos. Sie waren tot.

Ich weiß nicht wie lange ich so da lag, doch irgendwann spürten meine vom Fieber brennenden Lippen, eine Hand die mich mit kaltem Schnee fütterte. Der Schnee tat gut, er stillte meine Schmerzen. Dann versank alles wieder im Dunkeln. Als ich das nächste Mal das Bewusstsein wieder erlangte, leuchtete ein feuerroter Stern über mir. Als mein Blick langsam klarer wurde, erkannte ich einen russischen Soldaten der sich lächelnd über mich beugte. Die menschliche Wärme in seinem Blick tat mir gut. Es war der 27. Januar 1945 und ich lebte. (...)

Die Shoah begann nicht mit Auschwitz. Sie begann mit Worten. Sie begann mit dem Schweigen und dem Wegschauen der Gesellschaft. Es schmerzt mich, wenn Schüler jetzt wieder Angst haben, in die Schule zu gehen – nur weil sie Juden sind. Es schmerzt mich, wenn meine Urenkelkinder immer noch von Polizisten mit Maschinengewehren beschützt werden müssen, – nur weil sie Juden sind. Ich wünsche mir, dass nicht nur an den Gedenktagen an die toten Juden erinnert wird, sondern auch im Alltag an die Lebenden. Sie brauchen jetzt Schutz.

Es erschreckt mich, dass rechtsextreme Parteien wieder gewählt werden. Sie dürfen nicht so stark werden, dass unsere Demokratie gefährdet wird. Wir sind kurz davor. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft nicht schweigt, wenn am Nebentisch antisemitische Äußerungen fallen. Wer schweigt macht sich mitschuldig. Ich wünsche mir, dass Studenten ihre jüdischen Kommilitonen unterstützen, wenn sie angefeindet werden. (...)

Liebe Mama, ich danke dir, dass du mich damals gerade noch rechtzeitig auf die Flucht geschickt hast. Wie stark musst du gewesen sein, dass du mich, deine elfjährige Tochter, in dieser grausamen Zeit ins Ungewisse gehen ließest? In der Hoffnung dass ich überlebe. Und jetzt stehe ich hier im Bundestag, um Zeugnis abzulegen. Es war nie wichtiger als jetzt, denn: Nie wieder ist jetzt!

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