19 Jahre nach Femizid an Hatun Sürücü

Beim Gedenken mit Senat und Bezirk kritisieren Gewaltpräventionsprojekte Kürzungspolitik

  • Jule Meier
  • Lesedauer: 5 Min.

Auf der Tempelhofer Oberlandstraße an der Grenze zu Neukölln sind an diesem Mittwochmorgen rund 100 Menschen versammelt. Um einen Gedenkstein versammelt stehen der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU), Gleichstellungssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) und mit Martin Hikel (SPD) und Jörn Oltmann (Grüne) die jeweiligen Bezirksbürgermeister aus Neukölln und aus Tempelhof-Schöneberg. Menschen legen Blumen und Kränze nieder in Gedenken an Hatun Aynur Sürücü, welche Oltmann an diesem Mittwoch ein »Vorbild« nennt.

Es ist der 7. Februar 2005. Die Kurdin Hatun Aynur Sürücü ist 23 Jahre alt, Mutter eines Kleinkinds und steht kurz vor ihrer Gesellinnen-Prüfung als Elektroinstallateurin. Sürücü ist an einer Bushaltestelle auf der Tempelhofer Oberlandstraße, als sie drei Kugeln durch den Kopf treffen. Sie stammen aus der Waffe ihres 19-jährigen Bruders, der Hatuns Femizid vor 19 Jahren begeht.

Hatun Aynur Sürücü wuchs mit mehreren Brüdern im Ortsteil Kreuzberg auf. Mit 16 Jahren wurde sie mit ihrem Cousin in Istanbul zwangsverheiratet und kurz darauf von ihm schwanger. Die Jugendliche soll mit ihrer streng religiösen Familie im Konflikt gewesen sein, Istanbul verlassen haben und nach Berlin zurückgekehrt sein, wo sie ihr Kopftuch ablegte und in einer Zufluchtswohnung für minderjährige Mütter unterkam. Es war der Bruch mit den patriarchalen Vorstellungen ihrer Familie und ihr Weg als selbstbestimmte Frau, der Sürücü das Leben kostete.

Der Mord an der jungen Mutter löste bundesweite Debatten über Zwangsheirat, den politischen Islam und familiäre Gewalt aus. Hatun Aynur Sürücüs Mörder soll sich in Berlin in einem fundamentalistischen Umfeld bewegt haben und wurde nach dem Absitzen einer neunjährigen Jugendstrafe in die Türkei abgeschoben. Zwei weiteren mitangeklagten Brüdern konnte eine Mittäterschaft vor Gericht nicht nachgewiesen werden.

Seit 2008 erinnert eine Gedenktafel an Hatun Aynur Sürücü. Bundesweite Kampagnen und Angebote der sozialen Arbeit wandten sich anschließend gezielt an muslimische Männer und Jungen. Zwangsheirat wurde in Deutschland 2011 zum eigenen Straftatbestand. Die Grünen vergeben seit 2013 einen Preis für feministische Projekte im Namen von Hatun Aynur Sürücü und 2018 wurde in Neukölln eine Brücke nach ihr benannt.

Das 19. Gedenken an Hatun Aynur Sürücü findet an diesem Mittwoch erstmalig in Kooperation zwischen dem Bezirk Tempelhof-Schöneberg und Neukölln statt. Der Bezirksbürgermeister von Tempelhof-Schöneberg Jörn Oltmann spricht im Zusammenhang mit Sürücüs Gedenken und dem Schutz von Frauen von einer »Aufgabe für uns Männer« und spricht seinen Dank an alle aus, die »jeden Tag Frauen und Mädchen unterstützen«.

Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner stellt in seiner Rede den Landesaktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention (IK) heraus. Das Wort Femizid benutzt er nicht, spricht jedoch von Gewalt gegen Frauen, die »nicht auf Herkunft reduziert« werden dürfe. Auch Gleichstellungssenatorin Cansel Kiziltepe erwähnt den Landesaktionsplan zur IK. Wie das »nd« bereits berichtete, hat der Senat in der Umsetzung der IK an der verpflichtenden Koordinierungsstelle gespart. Kiziltepe betont die Gewaltprävention, »damit Schicksale wie Hatuns sich nicht wiederholen«. Dafür bräuchte es den Ausbau von Schutzplätzen und Beratungsangeboten.

Eines dieser Gewaltpräventionsprojekte ist »Heroes«, welches sich an männliche Jugendliche richtet. Hatun Aynur Sürücüs Leben war Anlass zur Gründung des Projekts 2007 in Neukölln. Inzwischen gibt es dieses über die Grenzen der Bundesrepublik auch in Österreich.

An diesem 19. Gedenken an Sürücü führen Sozialarbeitende von »Heroes« ein Rollenspiel auf, welches einen Konflikt zwischen Bruder und Schwester um eine romantische Partnerschaft der Schwester thematisiert und zeigt, welche Kommunikationsstrategien deeskalieren können.

»Wir setzen das Bruder-Schwester-Rollenspiel auch an Schulen ein«, erzählt Ali von »Heroes« dem »nd« nach der Aufführung. Das Rollenspiel würden sie mit den Jugendlichen zusammen konzipieren. Ihre Arbeit umfasse »Rhetorik-, Schauspiel-, Moderationstrainings und Bildungsreisen« und die Reflexion über Geschlechterrollen. »Anschließend gehen wir an die Schulen und machen Workshops zu diesen Themen«, sagt Ali. Ein »Hero« sei ein junger Mann, »der ein kritisches Bewusstsein zu Sexismus entwickelt« habe und »sich aktiv gegen sexistische Strukturen« einsetze.

»Wir sehen einen großen Bedarf nach unserem Angebot. Teilweise stehen Schulen auf Wartelisten«, erzählt Ali, der betont, dass patriarchale Gewalt »kulturübergreifend« stattfinde und das Hauptproblem bei den Männern liege.

Die Sozialarbeitenden von »Heroes« sprechen auf der Gedenkveranstaltung in Anwesenheit der Politiker*innen noch über ein weiteres Problem: Kürzungen. Ali berichtet dem »nd«, dass dem vom Senat finanzierten Projekt zum Jahreswechsel fast die Hälfte der Gelder gestrichen werden sollte. Ein intensiver Austausch mit der Politik konnte die Kürzung verhindern. »Wir brauchen diese Zeit, in der wir für die Abwendung von Kürzungen kämpfen, eigentlich für unsere Arbeit«, sagt Ali. Die ungenügende Finanzierung sei ein »Dauerproblem«. Teilweise müssten Sozialarbeitende 82 Workshops an sieben Schulen pro Schuljahr zu dritt in kurzer Zeit durchführen. »Wir arbeiten am Rande unserer Kapazitäten.«

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