Ecuador: »Der Staat hat die Gefängnisse aufgegeben«

Jorge Paladines über die Eskalation der Gewalt in Ecuador, die Militarisierung der Regierung und die Rolle der USA

  • Interview: Frederic Schnatterer
  • Lesedauer: 8 Min.
Festnahme eines Verdächtigen in Guayaquil. Der Mann soll einer kriminellen Bande angehören. Die ecuadorianische Nationalpolizei und die Streitkräfte versuchen, die Oberhand gegen das organisierte Verbrechen zu gewinnen.
Festnahme eines Verdächtigen in Guayaquil. Der Mann soll einer kriminellen Bande angehören. Die ecuadorianische Nationalpolizei und die Streitkräfte versuchen, die Oberhand gegen das organisierte Verbrechen zu gewinnen.

Anfang des Jahres eskalierte in Ecuador die Gewalt. Mitglieder von Drogenbanden revoltierten in mehreren Gefängnissen, in Guayaquil kam es zu einer spektakulären Geiselnahme im Studio eines Fernsehsenders. Was ist passiert?

Das war ein versuchter Narkoputsch. Es handelt sich dabei nicht um einen typischen Staatsstreich, der auf ökonomische, politische und ideologische Veränderungen abzielt. Der Narkoputsch zielt darauf, dass ein krimineller Status quo bestehen bleibt. Dieser zerfrisst den Staat allmählich, beispielsweise durch die Korruption öffentlich Angestellter, seien es Richter, Polizisten, Militärs, Politiker, Bürgermeister und so weiter.

Am 8. Januar erklärte Präsident Daniel Noboa, zu dem Zeitpunkt noch keine drei Monate im Amt, einen 60-tägigen Ausnahmezustand. Einen Tag später erließ er ein Dekret, laut dem sich Ecuador in einem »internen bewaffnete Konflikt« befindet. Was steckt dahinter?

Noboa wurde für nur 18 Monate gewählt – eine viel zu kurze Zeit, um die Gewalt zu beenden. Sein Ziel ist es, 2025 wiedergewählt zu werden. Deshalb setzt er auf die Inhaftierung von noch mehr Menschen, auf den Ausnahmezustand. Deshalb hat er einen internen bewaffneten Konflikt ausgerufen. Gemäß dem Ausspruch von Carl von Clausewitz, dass der Krieg eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist.

Interview

Jorge Paladines ist Rechtsanwalt, Kriminologe und Dozent an der Zentraluniversität Ecuador. Er sorgt sich um die Demokratie im Land durch den Einfluss krimineller Kartelle und dem wachsenden Einfluss der USA.

Sie forschen insbesondere über den Strafvollzug in Ecuador. Was hat es damit auf sich?

Das Epizentrum der Gewalt in Ecuador liegt in den Gefängnissen. Von dort aus leiten die kriminellen Organisationen nicht nur ihre Aktionen, dort rekrutieren sie auch ihre Mitglieder. In Ecuador ist die Gesellschaft ein Abbild ihrer Gefängnisse, nicht andersherum. Seit Jahren kommt es zu Massakern in den Gefängnissen. Der Staat hat die Gefängnisse aufgegeben.

Was meinen Sie damit, dass die ecuadorianische Gesellschaft ein Abbild ihrer Gefängnisse ist?

Die Massaker haben eine neue soziale, politische und wirtschaftliche Ordnung geschaffen. Alle Politiker denken darüber nach, wie das Problem der Unsicherheit gelöst werden kann. Wirtschaftlich bedeutet die Krise Verluste für Kleinstunternehmen, für Kleinunternehmer, für Großunternehmer, der Tourismus wird erschwert. Die Ecuadorianer wandern nicht nur wegen der Armut aus, sondern auch wegen der unsicheren Lage.

Wie konnte die organisierte Kriminalität in so kurzer Zeit so stark werden?

Ecuador grenzt an Kolumbien und Peru, also zwei Länder, in denen schon immer viel Koka angepflanzt wurde. Laut Uno hat der Anbau in letzter Zeit sogar noch zugenommen. 40 Prozent des weltweiten Kokains wird über die sieben ecuadorianischen Häfen verschifft, die im Vergleich zu jenen am kolumbianischen Pazifik hochmodern sind. Es gibt ein Straßennetz, das den gesamten Pazifik mit den Anden und dem Amazonasgebiet verbindet. Das kolumbianische Kokain, das über den Pazifik verschifft werden soll, verlässt Südamerika über Ecuador.

Die Gründe für die Gewalteskalation sind also nur in der Entwicklung des weltweiten Drogenhandels zu suchen?

Nein. Es gibt zwei Entwicklungen, die zur Erklärung der Gewalt in Ecuador beitragen können: Eine ist die Neugestaltung der internationalen kriminellen Ordnung. In Anlehnung an Marx spreche ich von einer neuen kriminellen Arbeitsteilung, in der Länder, die traditionell dem Transit von Kokain dienten, zu Logistikzentren des Drogenhandels wurden. So herrscht heute in Ländern wie Ecuador und Costa Rica, die noch vor kurzem als sehr friedlich galten, extreme Gewalt.

In den letzten Jahren sind andere kriminelle Organisationen auf den Plan getreten. Ein Grund liegt beispielsweise in der Zersplitterung der kriminellen Ordnung in Kolumbien. Früher kontrollierte die Farc-Guerilla große Gebiete, wodurch auch der Kokainpreis reguliert wurde. Nach dem Friedensabkommen 2016 traten andere Akteure an ihre Stelle.

Heute geht der Großteil des Kokains, das über Ecuador verschifft wird, nicht mehr in die USA, sondern nach Europa. Das wollen auch europäische kriminelle Organisationen wie die ’Ndrangheta oder die albanische Mafia ausnutzen. Die Neugestaltung der kriminellen Ordnung hat auch mit dem Anstieg des Kokainpreises in Ländern wie Saudi-Arabien zu tun, mit der Ausweitung von Märkten wie Australien und Neuseeland, mit der Zunahme des Konsums in Europa.

Sie sprachen von einer zweiten Entwicklung.

Die Zerstörung der sozialen Struktur – eine Folge der neoliberalen Politik der letzten Jahre. Das kann empirisch nachgewiesen werden. Lenín Moreno (Amtszeit von 2017 bis 2021, d. Red.) setzte als erster Präsident nach Rafael Correa (2007 bis 2017) auf einen schnellen neoliberalen Umbau der Gesellschaft. Er entließ medizinisches Personal, kürzte dem Gesundheitswesen Gelder und schloss das Justizministerium, auch der für die Gefängnisverwaltung zuständigen Stelle hat er Ressourcen entzogen.

Sein Nachfolger Guillermo Lasso (2021 bis 2023) verschärfte die neoliberale Politik sogar noch. Diese Schwächung der staatlichen Institutionen des Staates konnte die organisierte Kriminalität ausnutzen, da sie über Millionen von Dollar verfügt. Viele der Bandenmitglieder sind Teenager aus marginalisierten Verhältnissen, die keinen Zugang zu Bildung, zu staatlichen Hilfen und keine Perspektive haben. Das schwache ecuadorianische System konnte so relativ leicht vom internationalen Kokainhandel übernommen werden.

Statt den Sozialstaat zu stärken, hat Noboa nun erklärt, Ecuador befinde sich in einem bewaffneten internen Konflikt. Was ist seine Motivation?

Das Dekret verleiht den Drogenbanden den Status einer Kriegspartei. Es wird impliziert, dass kriminelle Organisationen Gebiete kontrollieren, auf die der Staat keinen Zugriff hat. Das ist für den ecuadorianischen Kontext nicht zutreffend und sehr riskant, sowohl rechtlich als auch politisch. Daniel Noboa bringt das in eine gute Position für eine mögliche Wiederwahl 2025. Der Ausnahmezustand dauert nur 60 Tage an, und kann dann um weitere 30 verlängert werden. Die Erklärung eines internen bewaffneten Konfliktes ist hingegen nicht zeitlich begrenzt. Die Gewalt, die Unsicherheit und die Panik kommen Noboa zugute. Denn die Bevölkerung unterstützt die laufende Militarisierung der Gesellschaft, die Inhaftierungen, den Kurs der harten Hand. Wenn heute jemand auf die Idee käme, die Todesstrafe wieder einzuführen, würde eine Mehrheit das wahrscheinlich gutheißen.

Der zunehmend autoritäre Kurs der Regierung erinnert an den von Noboas Amtkollegen Nayib Bukele in El Salvador.

In El Salvador herrscht ein permanenter Ausnahmezustand, Ecuador befindet sich offiziell in einem internen bewaffneten Konflikt. Das ist ein großer Unterschied. Die extrem autoritäre Stimmung ist hingegen vergleichbar. Mit ihr geht die Gefahr einher, dass Menschen nicht für das verhaftet werden, was sie getan haben, sondern für das, was sie sind: ihre Tätowierungen, ihre ethnische Herkunft, ihren sozioökonomischen Hintergrund. Den Sozial- und Rechtsstaat, der sozusagen als Immunsystem gegen autoritäre Tendenzen fungiert, gibt es nicht mehr.

In ihrem Kampf gegen die Drogenkriminalität wendet sich die Noboa-Regierung nun verstärkt den USA zu. Wie ist das zu bewerten?

Die internationale Drogenpolitik und entsprechend auch die Situation in Ecuador kann nicht verstanden werden, ohne sich die Rolle der USA anzusehen. In Ecuador unterhielten die USA zwischen 1998 und 2009 im Namen des sogenannten War on Drugs eine Militärbasis in Manta. Sicherheit hat das der Bevölkerung allerdings keine gebracht. In den zehn Jahren, in denen die US-Armee dort war, stieg die Mordrate im Land an.

Während der Regierung von Rafael Correa wurde beschlossen, die Basis in Manta zu schließen. Artikel 5 der 2008 angenommenen neuen Verfassung verbietet ausländische Militärbasen im Land. Eben weil ausländische Militärstützpunkte Instabilität für die Region bedeuten. Trotzdem gab es unter der Regierung von Correa natürlich eine Zusammenarbeit mit den USA, nur eben keine militärische, die Washington die Nutzung von ecuadorianischem Territorium erlaubt hätte.

Was änderte sich mit den Regierungen von Moreno und Lasso?

Sowohl Moreno als auch Lasso empfingen Vertreter des Südkommandos der US-Streitkräfte. Ende Januar war die Southcom-Oberkommandierende Laura Richardson erneut in Ecuador. Nur wenige Wochen im Amt unterschrieb Noboa zudem zwei bilaterale Verträge, die noch unter Lasso ausgehandelt wurden. Sie billigen unter anderem die Anwesenheit von US-Militärs in Ecuador und die militärische Zusammenarbeit auf See.

Vor einigen Tagen hat das ecuadorianische Verfassungsgericht beschlossen, dass die Verträge nicht gegen die Verfassung verstoßen. Aber was ist mit Artikel 5? Der verbietet nicht nur die Einrichtung ausländischer Militärstützpunkte in Ecuador, sondern er bezieht sich allgemein auf militärische Besatzung. Darunter fällt meiner Meinung nach auch, ausländischen Armeen zu erlauben, Ecuador zu durchqueren, sich dort aufzuhalten und dort Krieg zu führen.

Welches sind die Interessen der USA?

Wir dürfen nicht vergessen, dass der sogenannte War on Drugs auch eine Form der Einmischung in unsere Demokratien ist. Laura Richardon, die Chefin des Southcom, spricht offen darüber, wie sie die Sicherheitspolitik in Ecuador plant. Das heißt: Die USA planen unsere Sicherheit! Ecuador wird die Fähigkeit abgesprochen, seine eigene Sicherheit zu denken. Das ist ein Problem für unsere Demokratien, unsere Staaten werden so entpolitisiert.

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