Tangerine Dream: Man ist nicht allein im kalten Universum

So faszinierend wie verstörend: Tangerine Dreams Erfolgsalbum »Phaedra« wird 50 Jahre alt

  • Ralf Reiter
  • Lesedauer: 5 Min.
Oh, wie schön ist das Vereinigte Königreich, da wurde man geliebt: Tangerine Dream 1974 in London
Oh, wie schön ist das Vereinigte Königreich, da wurde man geliebt: Tangerine Dream 1974 in London

Ganz zu Anfang nannten sie es »kosmische Musik«. Man kann sich dieses Gewaber und Gebrumme gut vorstellen als Beschallung von Künstlerateliers der frühen 70er, wenn es darum ging, große abstrakte Flächen auszumalen und sich dabei gedankenschwer einen Titel für das Gemälde auszudenken. Kein Wunder, kamen die ersten Musiker von Tangerine Dream doch aus der Bildenden Kunst oder waren Stockhausen-Schüler, die sich mit Bluesrock und Psychedelia in Westberliner Clubs etwas dazuverdienten. Ehe sie an den neuen heißen Scheiß gerieten: an Synthesizer.

Kurz darauf, in den »Virgin-Jahren« (benannt nach ihrer englischen Plattenfirma Virgin Records), entwickelten Tangerine Dream ihre synthetische Ursubstanz im Klanglaboratorium weiter und wurden zum Aushängeschild der »Berliner Schule für Elektronische Musik«. Während die Düsseldorfer Verwandtschaft von Kraftwerk sich zunehmend zur ironisch-reduktionistischen Mensch-Maschine entwickelte, vollzogen Tangerine Dream eine alchemistische Hochzeit zwischen Maschinellem und Organischem. Autobahnen und Rrrroboterrr waren nicht ihr Ding; sie umschrieben vielmehr Natur, Metaphysik, Unbewusstes, Mythos – lebendige, atmende Abstrakta, aus deren Nebel in erdgeschichtlichem Tempo sich Form und Gestalt schälen und wieder vergehen.

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Das dräuende Album »Phaedra« von 1974, die erste Erfolgsplatte der Gruppe, bietet einen exzellenten Aussichtspunkt in die Soundgeologie der träumenden Mandarinen – sofern man schwindelfrei ist und kein Angstpatient. Wer sich weiter in diese Tektonik versenken möchte, der kann sich die zwölf Platten der »Virgin Years« wahlweise als kostengünstige oder luxuriöse Box beschaffen oder auf dem freigiebigen Youtube-Kanal der Band schmökern. Einige weitere Alben dieser Jahre, die nicht dem Virgin-Vertrag unterworfen waren, könnten ebenfalls aufschlussreich sein. So etwa die ersten beiden Filmmusiken – die zu William Friedkins »Sorcerer« (»Atemlos vor Angst«) und Michael Manns »Thief« (»Der Einzelgänger«) – oder die Ostblock-Live-Platten »Pergamon« und »Poland«.

Tangerine Dream erzielten mit der »kosmischen Musik« ab 1970 einige Achtungserfolge auf der avantgardistischen Seite des Krautrock-Spektrums, aber erst nach ihrer Emigration zu den Londoner Virgin Records geriet etwas ins Rutschen. Vor 50 Jahren stand »Phaedra« wochenlang in den britischen LP-Charts und verkaufte sich allein in UK eine Million Mal an völlig baffe Musikhörer. Die Formfreiheit dieser Klänge war ebenso faszinierend wie verstörend. War das überhaupt Populärmusik oder doch eine Fortsetzung von Beethoven, Bach, Ligeti, Riley und Stockhausen mit anderen Mitteln? Der einflussreiche englische Radio-DJ John Peel war Fan, David Bowie und Brian Eno waren Fans, und Steven Wilson gibt an, er sei durch Tangerine Dream erst zur Musik gekommen. Deutschland hingegen hatte sich nach den Aufwallungen des Krautrock schon wieder zur genügsamen Rock-Provinz herabgestuft und den Sense of Wonder eingebüßt: »Phaedra« verkaufte sich hierzulande schlappe 6000 Mal. Kraftwerks Initialalbum »Autobahn« erging es im selben Jahr übrigens kaum anders in Deutschland.

Plötzlich waren Tangerine Dream, damals bestehend aus dem Trio Edgar Froese, Chris Franke und Peter Baumann, draußen in der Welt Deutschlands wichtigstes Elektronik-Unternehmen. Und auch in Osteuropa lauschte man des Abends in kargen Jugendzimmern dank Piraterietonträgern und Weltfunk diesen Wunderklängen, die nichts anderes als Freiheit zu versprechen schienen – durch ihre eigene Freiheit der Form nämlich und durch die organische Art, mit der sie die Welt in die verrammelten Arbeiter-, Bauern- und Betonstaaten hineinimaginierten.

Deren Kulturfunktionäre ließen die Band schon früh leibhaftig herein, denn sie hielten diese rein instrumentale Musik für unverdächtig. Im Ostberliner Palast der Republik, Anfang 1980, sicherten die Funktionäre sich und ihren verdientesten Helden der Arbeit 80 Prozent der Tickets für diesen ersten Auftritt einer West-Band überhaupt. Diese wiederum wurde gleich renitent und veranlasste, dass 900 Personen, die vor dem Veranstaltungsort ohne Eintrittskarten ausharrten, eingelassen wurden. In Polen gibt es Stimmen, die behaupten, Tangerine Dreams selbstquälerische Tournee im klirrend kalten Dezember 1983 hätte den späteren Abriss des Eisernen Vorhangs ebenso vorbereitet wie Solidarność oder Johannes Paul II. Hört man auf dem Livealbum »Poland«, wie hier Maschinenrhythmen Mauern wegsemmeln, sich sehnsuchtsvoll-sakrale Soundscapes über den Verstand ergießen und wie das Publikum darauf reagiert, dann möchte man es glauben.

Tatsächlich tun sich auch heute noch seltsame Dinge auf, wenn man die »Virgin Years« in den Player surren lässt. Die Neuronen schnuppern daran und sind sofort bei der Sache. Um dann völlig aufzugehen in hypnotischen Klangwelten voller Zartheit und Getöse, Höhen und Tiefen. Man findet sich wieder unter endlosen Kaskaden, inmitten sich in Ewigkeit dehnender Muster und Mysterien, ist gefangen in sich ständig aufbauender Struktur, die irgendwie nie fertig wird, und millimetergenau eskalierender Schönheit, gefangen auch zwischen den Sequenzer-Rhythmen, die auf staunenswerte Weise umeinander hüpfen.

Derart schwebend in der eigenen Zeitlosigkeit, merkt man auf einmal: Man ist ja gar nicht allein im kalten Universum. Alles lebt! Die Architektur, die Luft um einen herum, sogar die Maschinen, sogar das Vakuum des Kosmos, vielleicht sogar der Beton der Realsozialisten. Man möchte diese transzendierenden Fraktale immer weiter erforschen, sodass man am Ende einfach wieder von vorn anfängt. Die Virgin-Jahre sind ein Ouroboros, eine alchemistische Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt.

Sicher, danach wurde es ein bisschen arg unübersichtlich und beliebig in der Diskografie, und die Sounds, die Edgar Froese generierte, wurden entschieden zu streichzart, zu sehr Kuscheldecke. Aber die Mandarinen träumen inzwischen wieder unruhiger. Nach Froeses Tod 2015 machten seine drei Eleven auf Froeses Wunsch hin weiter, argwöhnisch beäugt von Skeptikern und Puristen, und haben seitdem mit behutsamer Retrofizierung einen ansehnlichen Brückenschlag über die atmenden Nebel der Zeit vollführt. Das ist eindeutig heutige Musik und hört sich doch fast wieder an wie »Phaedra«.

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