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  • Zwei Jahre Ukraine-Krieg

Aus der Ukraine nach Berlin: Flucht in die Unsicherheit

Tausende Drittstaatsangehörige flohen aus der Ukraine nach Berlin, zwei Jahre später bangen sie nach wie vor um einen Aufenthaltstitel

Schon auf der Flucht aus der Ukraine erfuhren Drittstaatsangehörige aus afrikanischen Ländern Rassismus. In Deutschland werden sie von den Ausländerbehörden ungleich behandelt.
Schon auf der Flucht aus der Ukraine erfuhren Drittstaatsangehörige aus afrikanischen Ländern Rassismus. In Deutschland werden sie von den Ausländerbehörden ungleich behandelt.

Als der russische Angriffskrieg begann und Millionen Menschen aus der Ukraine flohen, beschlossen die EU-Mitgliedstaaten im März 2022, ein mächtiges Instrument anzuwenden: die Massenzustromrichtlinie. Anstatt Geflüchtete durch das langwierige Asylverfahren zu schleusen, sollten sie automatisch mit ihrer Registrierung einen zeitlich begrenzten Schutzstatus erhalten – in Deutschland über den sogenannten »24er«. Gemäß Paragraf 24 des deutschen Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) erhielten sie gültige Papiere inklusive Schengen-Visum, Arbeitserlaubnis, Zugang zu Sozialleistungen und genug Zeit, um sich bis zum Ablauf dieses temporären Schutzstatus um einen neuen Aufenthaltstitel zu kümmern.

Doch nicht allen Geflüchteten wurde dieses unkomplizierte Verfahren gewährt. Menschen ohne ukrainische Nationalität, sogenannte Drittstaatsangehörige, mussten erst ihre Schutzbedürftigkeit beweisen. Das betraf etwa eine große Gruppe internationaler Studierender aus afrikanischen und asiatischen Ländern, die zum Teil seit Jahren in der Ukraine gelebt und studiert hatten, binationale Paare und Migrant*innen, die sich in der Ukraine ein Leben aufgebaut hatten.

Das Bundesinnenministerium schätzt die Anzahl der Ukraine-Geflüchteten ohne ukrainische Staatsbürgerschaft auf 29 000 Personen. In Berlin dürften seit 2022 Tausende Drittstaatler*innen angekommen sein, die zuständigen Behörden führen dazu keine Statistik. Sie flohen aus einem Krieg und landeten in Unsicherheit – die auch zwei Jahre nach Kriegsbeginn anhält.

Ola lebt seit seiner Ankunft in Berlin in Unsicherheit. Der 37-Jährige stammt aus Nigeria und wanderte 2021 mit seiner Frau und zwei Kindern nach Kyiv aus. Dort hoffte der IT-Experte auf besser bezahlte Arbeit und eine Zukunft für seine Familie. Doch die russischen Bomben zerstörten diesen Traum. Mit dem in Kyiv geborenen dritten Kind im Gepäck floh die fünfköpfige Familie im März 2022 nach Berlin.

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Rund ein halbes Jahr später, im Oktober 2022, haben Ola und seine Frau einen Termin im Landesamt für Einwanderung (LEA). Die Berliner Ausländerbehörde ist zuständig für den Schutzstatus nach Paragraf 24 AufenthG. Nicht-Ukrainer*innen können bestimmte Ausnahmeregeln geltend machen, ein Kind mit ukrainischer Staatsangehörigkeit gilt etwa als Grund für den vorübergehenden Schutz gemäß der Massenzustromrichtlinie. Das Problem: Bevor die Kyiver Behörde Olas jüngstem Kind die ihm zustehende ukrainische Nationalität erteilen konnte, musste die Familie fliehen.

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Im Dezember erhalten Ola und seine Frau deshalb lediglich eine Fiktionsbescheinigung für ein Jahr. Das Dokument funktioniert als Übergangslösung für alle Drittstaatsangehörigen in Berlin, die keinen temporären Schutz bekommen. Zwar gehen eine Arbeitserlaubnis und Zugang zu Sozialleistungen damit einher, doch im Gegensatz zu einer tatsächlichen Aufenthaltserlaubnis etwa nach Paragraf 24 AufenthG enthält es kein Schengen-Visum.

Hier beginnt ein nervenaufreibendes Behörden-Pingpong. »Von der kommunalen Behörde in Kyiv hieß es, dass für die Staatsbürgerschaftsurkunde ein Elternteil persönlich kommen muss oder wir das Verfahren dort machen können, wo das Kind gemeldet ist«, erzählt Ola gegenüber »nd«. Reisen geht nicht, denn ohne Aufenthaltserlaubnis könnten er oder seine Frau nicht wieder zurück nach Deutschland einreisen. Doch die ukrainische Botschaft in Berlin weigert sich, das Staatsbürgerschaftsverfahren durchzuführen und fordert die Eltern auf, nach Kyiv zu reisen. »Niemand wollte uns wirklich helfen.«

Als nach einem Jahr im Oktober 2023 die Fiktionsbescheinigungen auslaufen, haben weder die ukrainischen noch die deutschen Behörden eine Lösung für die vertrackte Lage gefunden. Stattdessen schickt das LEA Ola und seiner Frau eine Aufforderung zur Ausreise. »Die meinten zu uns: Ihr Kind hat keine ukrainische Staatsangehörigkeit und Sie haben keinen Job, deshalb müssen Sie zurück in Ihr Herkunftsland gehen.« Dabei arbeitet Ola mittlerweile bei einer IT-Firma. Es ist ihm wichtig zu betonen, dass er in Deutschland nicht wegen der Sozialleistungen bleiben will. »Ich versuche mich zu integrieren, ich habe meine A2-Deutschprüfung erfolgreich abgelegt, ich halte mich an die Gesetze.«

Vicky Germain kennt viele Geschichten wie die von Ola. Die Aktivistin engagiert sich seit Jahren für die Rechte Geflüchteter und saß bis Mai 2023 im Vorstand des Berliner Migrationsrates. Seit knapp zwei Jahren unterstützt sie Drittstaatsangehörige – erst am Hauptbahnhof, nun im Büro von CUSBU nahe der U-Bahnstation Voltastraße in Wedding. Der Name des Projektes steht für »CommUnities Support for BIPoC Refugees from Ukraine«, auf Deutsch: Unterstützung aus Gemeinschaften für BIPoC-Geflüchtete aus der Ukraine.

Wichtige Dokumente, die noch in ukrainischen Behörden liegen – diesem Problem begegnen die Berater*innen von CUSBU regelmäßig. Dazu kommen Entscheidungen des LEA, Drittstaatler*innen den temporären Schutz über Paragraf 24 AufenthG zu verwehren, die sich für Germain und ihre Kolleg*innen nicht nachvollziehen lassen. So hätten eigentlich vulnerable Geflüchtete wie alleinerziehende Mütter, Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen, oder Menschen aus der LGBTIQ*-Community ein Recht auf den Schutzstatus. »Aber wir stellen fest, dass unter unseren Klient*innen besonders Alleinerziehende und queere Menschen trotzdem nicht berücksichtigt werden.«

Die negativen Bescheide aus der Ausländerbehörde ließen sich jedoch nur schwierig anfechten, es fehle an Transparenz. »Die Behörden haben einen sehr großen Entscheidungsspielraum. Ich will nicht von totaler Willkür sprechen, aber es geht in die Richtung«, sagt Andrés Pinto-Alvaro, der als Sozialberater bei CUSBU arbeitet. Für die Betroffenen sei der Prozess belastend. »Das geht mit Unsicherheit einher, mit Angst und natürlich mit einem Mangel an Perspektive.«

Einige der Drittstaatsangehörigen, die nicht über Paragraf 24 AufenthG einen Schutzstatus erhielten, konnten in den vergangenen zwei Jahren von ihrer Fiktionsbescheinigung in ein Studiums-, Arbeits- oder Ausbildungsvisum wechseln. Doch die Voraussetzungen hierfür sind nicht leicht zu erfüllen. Für ein Studiumsvisum braucht es neben dem Studienplatz auch den Nachweis, für den eigenen Lebensunterhalt aufkommen zu können, etwa in Form eines Sperrkontos mit einem Mindestbetrag an Geld. Für Ausbildungen werden meistens ein hohes Deutschlevel und eine Ausbildungsvergütung vorausgesetzt, auch der Arbeitsmarkt richtet sich nach wie vor sehr nach Deutschkenntnissen. »Je nach Person ist nicht immer die passende Lösung dabei«, sagt Tausi Neumann, ebenfalls Beraterin bei CUSBU. »Und selbst wenn jemand alle Voraussetzungen erfüllt, klappt es nicht immer«, ergänzt Pinto-Alvaro.

Wer weder in den 24er gerutscht noch in einen anderen Aufenthaltstitel gewechselt ist, steht nun vor einem großen Fragezeichen. Denn viele Fiktionsbescheinigungen sind vergangenen Herbst ausgelaufen und noch nicht verlängert worden, erzählt Germain. Das liege zum einen an den hohen Wartezeiten beim LEA: »Terminanfragen aus November werden jetzt langsam bearbeitet.«

Zum anderen fehle es an einer klaren Antwort des LEA, was das Ende der Fiktionsbescheinigungen für die Betroffenen bedeute. Das stelle besonders seit dem Regierungswechsel ein Problem dar: »Die Kommunikation insbesondere mit dem LEA Berlin, aber auch mit dem Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, ist von einem Tag auf den anderen abgebrochen«, so Germain. Vorher konnte CUSBU als zivilgesellschaftlicher Teil des Krisenstabs des Senats diese Situation mitgestalten, »jetzt gibt es keine zivilgesellschaftliche Einbindung in der Krisenstab mehr«. Seit der schwarz-roten Koalition befindet sich das senatsgeförderte Projekt zudem in einer unsicheren Finanzierungslage.

Dabei bestehe nach wie vor ein großer Bedarf an Beratung – und an einem Ort, um sich auszuruhen, aufzuwärmen und Gehör zu finden. »Es kommen einige Leute hierher, die keinen festen Wohnsitz haben und sich deshalb tagsüber nirgendwo aufhalten können«, berichtet Pinto-Alvaro. Mehr Klient*innen als früher hätten kein Geld für Essen und müssten in Notübernachtungen schlafen. Dazu kämen Fälle von neuangekommenen Geflüchteten, die im Ukraine-Ankunftszentrum Tegel nicht registriert wurden und weder Geld noch Unterbringung erhielten.

Was die Situation der Drittstaatsangehörigen tatsächlich verbessern könnte? »24er für alle«, sagt Germain. Ihre Kolleg*innen stimmen zu. »Die Geflüchteten sollten dieselben Rechte haben, sie fliehen vor demselben Krieg«, sagt Neumann. Nicht nur die Betroffenen, auch die deutschen Behörden würden davon profitieren, ist sich das Team einig. »Die Behörden sind überfordert. So könnten sie sich viel bürokratischen Aufwand sparen«, sagt Pinto-Alvaro.

Ola und seine Frau sind mittlerweile von Abschiebung bedroht, die Ausländerbehörde hat ihre nigerianischen Pässe eingezogen. Mithilfe eines Anwalts wollen sie vor dem Berliner Verwaltungsgericht um den Zugang zum temporären Schutz oder zur Blauen Karte der EU kämpfen, für die sich Ola als IT-Experte mit Arbeitsvertrag eigentlich qualifiziert. Eine Rückkehr nach Nigeria ist keine Option. »Die Inflation ist dort über 30 Prozent, Arbeitslosigkeit über 55 Prozent. Ich möchte nicht, dass meine Kinder dort aufwachsen.«

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