Prozess um S-Bahn-Vergabe: Kammergericht macht Vorgaben

Erhebliche Bedenken zu Ausschreibungsverfahren des Berliner S-Bahnnetzes

In einer bemerkenswerten und langen Verhandlung vor dem Berliner Kammergericht am Freitag werden den Ländern Berlin und Brandenburg Änderungen am Ausschreibungsverfahren für zwei Drittel des Berliner S-Bahnnetzes aufgegeben. Der große Knall, ein Kippen des wegen politischen Zwistes in der damaligen rot-rot-grünen Koalition äußerst komplexen Verfahrens, bleibt jedoch aus.

Es ist eine Mischung aus Krimi, Therapiesitzung und pädagogischer Intervention, die die Vorsitzende Richterin Cornelia Holldorf am Freitag zehn Stunden lang am Kammergericht am Kleistpark aufführt. Neben ihr und zwei weiteren Richtern sind die Protagonisten die beiden Länder, vertreten durch Anwalt Niels Griem von der Bremer Kanzlei BBG und Partner, sowie Alstom, der zweitgrößte Bahntechnikkonzern der Welt mit Sitz in Frankreich. Für ihn führt der Jurist Alexander Csaki von der Kanzlei Bird & Bird aus München das Wort.

Alstom fühlt sich bei dem laufenden Vergabeverfahren für die zwei Teilnetze Nord-Süd und Stadtbahn der Berliner S-Bahn ungerecht behandelt im Vergleich zum derzeitigen Betreiber, der Deutsche-Bahn-Tochter S-Bahn Berlin GmbH, die sich bei der Ausschreibung für die Fahrzeuglieferung zusammengetan hat mit den Bahntechnikkonzernen Siemens und Stadler. Die beiden haben die neuen Züge der Baureihe 483/484 für das Ringbahn-Teilnetz produziert, das bereits in einem Wettbewerbsverfahren an die S-Bahn Berlin GmbH ging. Der Vertrag läuft bis Ende 2035.

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Das damalige Verfahren erntete viel Kritik, weil die Deutsche Bahn so große Vorteile hatte, dass am Ende nur sie ein Angebot abgab – und den Zuschlag erhielt. Die Grünen wollten unter ihrer damaligen Verkehrssenatorin Regine Günther echten Wettbewerb; SPD und Linke fürchteten nicht zu Unrecht tiefgreifende Probleme, die ein auf mehrere Unternehmen zersplitterter Betrieb mit sich bringen könnte. Nicht zuletzt standen sie an der Seite der Gewerkschaften, die Entlassungen und Verschlechterungen in den Arbeitsverträgen bei einem Betreiberwechsel fürchteten.

Heraus kam ein komplexes Verfahren. Bewerbungen sind möglich für ein Angebot aus einer Hand für alle Teillose oder auch nur für ein Teilnetz. Oder nur für den Betrieb oder die Fahrzeuglieferung in zwei Netzen. Und so weiter. Neun Kombinationen insgesamt, deren Vergleichbarkeit ein dreiseitiges Dokument regeln soll.

Insgesamt 25 Rügen durch Alstom zählt das Kammergericht, darunter »zulässige und unzulässige Rügen, begründete und unbegründete«, wie Richterin Holldorf sagte. Nur die ersten fünf auf der Liste, die sie einem »Servicegedanken« folgend auch an die anwesende Presse austeilen ließ, sind nach Ansicht des Gerichts relevant.

Nummer eins war die Vergleichsmatrix für Angebote auf Teillose oder ein Gesamtangebot, in der nicht sichergestellt sei, »dass der Zuschlag an das wirtschaftlich günstigste Angebot folgen würde«. Auch der Vorteil, den die S-Bahn Berlin wegen bereits bestehender Werkstätten haben soll, ist nach Ansicht des Gerichts nicht ausreichend kompensiert. Rund zwei Stunden wurde dazu argumentiert. Nach einer anderthalbstündigen Mittagspause ließ Richterin Holldorf jedoch die Katze aus dem Sack: Die Rüge sei zwar begründet, aber unzulässig. Alstom hatte die Beschwerde schlicht zu spät eingelegt.

Für aktuell relevant hält das Gericht nur zwei eher überschaubare Punkte. Einerseits die Kosten für Gleisanschlüsse neuer Werkstätten sowie eine mögliche mangelnde Kooperation von Siemens als Lieferant für die Fahrzeugtechnik des S-Bahn-spezifischen Signalsystems ZBS. Alstom bewirbt sich im Verfahren um die Lieferung der mindestens 1400 neuen Wagen für die beiden Teilnetze.

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Im dritten und am Freitag letzten Akt der Verhandlung machte das Gericht Vorschläge für Umformulierungen von vier der fünf Punkte. Einerseits ist das bemerkenswert, weil die ersten zwei Beanstandungen wegen der zu späten Rüge im Verfahren juristisch eigentlich keine Rolle mehr spielen sollten. Andererseits ist auch die Aufforderung des Gerichts an die Kontrahenten, miteinander über die Umformulierungen zu verhandeln, pikant. Denn es gelten in Vergabeverfahren strikte Kontaktverbote jenseits der dafür vorgesehenen Kommunikationskanäle.

»Wir müssen aufpassen, dass wir nicht den einen Fehler reparieren und den anderen Fehler einbauen«, sagte Cornelia Holldorf im Verhandlungsverlauf. Am kommenden Freitag treffen sich die Beteiligten erneut vor Gericht. Die Kuh ist noch nicht vom Eis.

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