Generationenkonflikt in Japan: Die Jugend muckt auf

Das alternde Japan erlebt einen Generationenkonflikt: Der Nachwuchs will nicht mehr benachteiligt werden

  • Felix Lill, Tokio
  • Lesedauer: 8 Min.
Feier nach bestandener Aufnahmeprüfung an der Universität: Viele junge Leute haben Pläne für ihr Leben, sind aber an enge Konventionen gebunden.
Feier nach bestandener Aufnahmeprüfung an der Universität: Viele junge Leute haben Pläne für ihr Leben, sind aber an enge Konventionen gebunden.

Wenn Suzuka Nakamura spricht, ist sie kaum zu hören, so schrill ist die Geräuschkulisse in der Mensa. Um sie herum machen Studierende Mittagspause, aber die 23-Jährige hat keine Zeit für Erholung. »Wir werden diskriminiert«, wiederholt sie, in deutlich gehobener Stimme: »Wir: die jungen Menschen.« In dieser Kantine im Zentrum Tokios, wo Grüppchen gerade erwachsener Frauen kichern, ein Stück weiter junge Männer laut gegeneinander anschreien, mag zwar wenig darauf hindeuten, dass der Nachwuchs keine Stimme hat. Die Mensa der Sophia Universität wirkt wie eine Bastion der Jugendlichkeit.

Aber Suzuka Nakamura bleibt dabei: »Jeder weiß doch, dass die Welt da draußen ganz anders ist.« Und die Politikstudentin weiß, wovon sie spricht. Sie muss es, denn am Donnerstag zieht sie wieder vor Gericht. Sie fragt rhetorisch: Wie könne es sein, dass sie seit ihrem 18. Geburtstag wählen darf, aber bis heute nicht selbst gewählt werden kann? »Warum traut dieses Land alten Menschen, aber nicht jungen?« Über Jahre habe Suzuka Nakamura Antworten gesucht, bis heute keine gefunden. »Dieses Land ist eine Gerontokratie«, sagt sie. Eine Herrschaft der Alten. »Deshalb verklagen wir den Staat.«

Suzuka Nakamura ist mittlerweile eine nationale Bekanntheit. Letztes Jahr hat sie die Organisation Hikisage ins Leben gerufen, die etwas Unerhörtes fordert: »Wir wollen das passive Wahlrecht auf 18 Jahre senken«, wie sie in höflichen, aber für Japan untypisch direkten Worten erklärt. Schon mehrmals hat Nakamura mit ihrer Organisation ihr Anliegen vorm Tokioter Bezirksgericht verhandelt, nächster Termin ist der 14. März. »Der Gegnerseite fehlen Argumente«, findet die junge Frau.

Zumal das Problem Jahr für Jahr größer werde: »Junge Menschen können immer weniger Einfluss nehmen!« In keinem Land der Welt ist das Altern der Bevölkerung so weit fortgeschritten wie in Japan. Drei von zehn Personen sind 65 Jahre oder älter, jede zehnte ist mindestens 80 Jahre alt. Zum Vergleich: Im ebenfalls alternden Deutschland ist etwas mehr als jede fünfte Person 65 oder älter und sieben Prozent sind mindestens 80. Das Medianalter – das den Mittelwert der Gesellschaft abbildet – beträgt in Japan 49,5 Jahre, also drei Jahre mehr als Deutschland und sogar sieben Jahre mehr als Frankreich.

Dieser Trend stellt Gesellschaften vor eine besondere Herausforderung: Wie kann man in einem Land, in dem die jungen Menschen einen zusehends kleineren Anteil ausmachen, sicherstellen, dass auch an die Interessen des Nachwuchses hinreichend gedacht wird? Suzuka Nakamura sagt: durch mehr junge Personen in der Politik. »Je nach Parlamentskammer kann man sich hier erst mit 25 oder 30 zur Wahl aufstellen. Aber bei solchen Regeln nur aufs Alter zu schauen, ist falsch.« Gerade in alternden Gesellschaften sei der Nachwuchs nicht nur eine Minderheit, die Schutz verdiene. »Er ist die Zukunft!«

Unter den Industrienationen ist Japan in der Abschaffung von Altersdiskriminierung ein Nachzügler: In Deutschland betrug das passive Wahlrecht bis 1974 noch 25 Jahre. In Großbritannien musste man bis 2006 noch zumindest 21 sein, um gewählt werden zu können. Heute können die Staatsbürger in beiden Ländern mit 18 Jahren gewählt werden. In Japan kämpft Hikisage mit einem per Crowdfunding gesammelten Budget für Anwälte um eine ähnliche Gleichstellung.

Aber die Skepsis ist groß. Deutlich zu spüren ist die zum Beispiel bei Hitoshi Kikawada. Der Parlamentsabgeordnete der im Land übermächtigen Liberaldemokratischen Partei (LDP) lächelt in seinem Büro nur milde, wenn er auf das Begehr von Hikisage angesprochen wird. »Ich glaube, da gibt es kein großes Problem«, sagt Kikawada, ein Mann mit kurzärmligem Hemd und freundlichem Lächeln, in fast flüsterndem Ton. »Wenn man mit 18 schon Politiker werden könnte, wäre das doch etwas früh. Man sollte erstmal studieren, übers Leben lernen.«

Nur: Wenn es 18-Jährigen an der nötigen Erfahrung fehlt, um Politikerin zu werden, warum dürfen sie dann schon selbst mitentscheiden, wer gewählt werden soll? Das aktive Wahlrecht besteht in Japan ab 18. »Diese beiden Wahlrechte sind derzeit nicht gleich verteilt, das stimmt natürlich«, sagt Hitoshi Kikawada. Aber, gibt er zu bedenken: »Als ich ins Parlament gewählt wurde, war ich 42. Da war ich auch sehr unerfahren.« In die Welt der Politik einzusteigen, sei schwierig. »Man hat plötzlich keine Zeit mehr für sich selbst. Und als junger Mensch muss man sich doch nicht so beeilen.«

Im Parlament senkt auch Hitoshi Kikawada mit seinen 53 Jahren eher den Altersdurchschnitt. Während wohl jede Gesellschaft dazu neigt, ältere Menschen für klüger und weiser zu halten, ist diese Tendenz in Japan besonders ausgeprägt. Der Einfluss des Konfuzianismus, der großen Wert auf Altershierarchien legt, ist ein Grund. Aber die politischen Strukturen im Land festigen diese noch: Kaum ein CEO eines großen Unternehmens ist nicht männlich und alt. Bekannte junge Personen sieht man in der japanischen Öffentlichkeit fast nur im Sport und im Showgeschäft.

Aber ist das okay so? Yuki Murohashi ist ein weiterer jüngerer Mann, der widerspricht. An einem späten Nachmittag kommt er aus seinem Büro in ein lärmiges Café im Süden Tokios, und sagt zuerst: »Alle möglichen Gruppen in Japan haben eine Interessenvertretung: Es gibt Industrieverbände, Gewerkschaften, diverse Vereine und so weiter. Aber lange Zeit gab es keine Organisation für die Jugend.« Murohashi hat sie 2015 gegründet. Seitdem ist er Vorsitzender der Japanischen Jugendpolitikvereinigung.

Yuki Murohashi betont: Bei seiner Vereinigung gehe es nicht darum, eine bestimmte politische Linie zu vertreten, sondern vielmehr die Idee, dass die Jugend an sich vertreten sei, in all ihrer Vielfalt. »Aber natürlich sind diverse Themen, die im Interesse des Nachwuchses sind, eklatant unterbelichtet.« So beschloss Japan erst vor einem Jahr ein Gesetz, das Kinderrechte schützt und Erwachsene dazu aufruft, Kinder bei mehreren Themen nach ihrer Meinung zu fragen. »Unsere Organisation hat sich für dieses Gesetz eingesetzt«, sagt Murohashi stolz.

Es war ein seltener Sieg seiner Organisation. Yuki Murohashi, heute 36, erinnert sich noch gut daran, wie er in den Anfangsjahren die Parteien abtelefonierte, um Ansprechpartner zu finden. Viele, so spürte er, waren schon deshalb reserviert, weil er jung war. »Heute scheint es zu helfen, dass ich etwas älter bin. Wir haben jetzt Kontakte zu allen Parteien.« Wobei Murohashi nun eben eigentlich selbst zu alt ist: Die Jugendpolitikvereinigung will Jungerwachsene, Kinder und Jugendliche vertreten. »Wir haben um die 900 Mitglieder. Zwei Drittel sind zwischen 16 und 20, knapp 20 Prozent sind noch im Grundschulalter.«

Doch auch die Jugendpolitikvereinigung verändert sich mit der Zeit. Früher oder später wachsen die Mitglieder aus ihrem Jugendalter heraus. »Wer einen Job antritt, muss uns oft schon deshalb verlassen.« Arbeitgeber sähen es nicht gerne, wenn sich Angestellte politisch engagieren. Yuki Murohashi gab daraufhin seinen Job als Journalist auf und wurde zum Aktivisten in Vollzeit.

In vielen Industriegesellschaften ist die Wahlbeteiligung junger Menschen unterdurchschnittlich. Japan sticht auch hier als Extremfall hervor: Bei der letzten Oberhauswahl im Juli 2022 betrug die Wahlbeteiligung insgesamt gut 52 Prozent, bei den unter 30-Jährigen lag sie nur bei rund 34 Prozent. Koichi Nakano schüttelt den Kopf, wenn er die Zahlen hört. »Die jungen Menschen bräuchten dringend mehr Gehör.«, sagt der Professor für Politik in seinem Büro der Sophia Universität, ein paar Stockwerk oberhalb der Mensa, wo sich Suzuka Nakamura über die Diskriminierung der Jugend beschwert hat.

Aber Nakano, der zu den bekanntesten Kritikern der Regierung zählt, sagt auch: »Ironischerweise ist diese Schieflage das Ergebnis sehr effektiver Politik.« Denn als in den 1960er Jahren die Studentenproteste waren, reagierte die Regierung harsch: »Es wurde begonnen, politische Aktivitäten an Schulen zu verbieten. Und aus konservativer Sicht war das ein großer Erfolg: So gelang es über die Jahre, die Aufmerksamkeit der jungen Menschen von politischen Themen auf Konsum und Karriere umzulenken.« Selbst Politikstudentinnen kennen außer der regierenden LDP oft keine politische Partei.

Und dennoch würde eine stärkere Beteiligung der Jugend frischen Wind in die Politik bringen, glaubt auch Nakano. »Die jüngeren Menschen sind bei vielen Themen rund um Geschlechtergleichheit progressiver eingestellt.« Zum Beispiel sind jüngere Befragte häufiger der Meinung, dass in der Ehe beide Personen die Möglichkeit haben sollten, ihren Nachnamen beizubehalten, was bisher aber nicht der Fall ist. »Das Gleiche gilt für die Legalisierung der Homo-Ehe, die es in Japan noch nicht gibt. Auch in der Klimapolitik würden die Stimmen junger Menschen einen Unterschied ausmachen.«

Suzuka Nakamura fällt noch ein weiteres Thema ein, für das sie sich als Politikerin einsetzen würde: »Wir jungen Menschen wollen die Freiheit haben, über unseren Lebensstil zu entscheiden.« Ihr Vater führe ein typisches japanisches Leben: »Er arbeitet seit Jahrzehnten im selben Unternehmen, kommt manchmal erst nachts nach Hause und nimmt fast keinen Urlaub. Ich könnte das nicht. Meiner Generation ist eine gute Work-Life-Balance wichtiger als das Einkommen.«

Die Regierung um die LDP will davon wenig hören. Denn wenn bei einer alternden Bevölkerung die Menschen auch noch weniger arbeiten als zuvor, sieht sie den Wohlstand in Gefahr. Solche Differenzen zwischen Establishment und Nachwuchs machen es umso schwieriger, das passive Wahlrecht zu senken, glaubt Koichi Nakano: »Vor allem das Hohe Gericht vermeidet es bei Fällen wie diesem oft, ein klares Urteil zu fällen, indem es dann sagt: ›Darüber müssen die Menschen entscheiden.‹«

Wird die Klage, die am Donnerstag neu verhandelt wird, also irgendwann versanden? Yuki Murohashi, der die Initiative von Suzuka Nakamura unterstützt, will daran gar nicht denken. Er sagt nur: »Na ja. Es wäre schon schlimm, wenn sie nicht durchkommt, oder?«

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