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  • Alternativen zum Patriarchat

Für eine solidarische Zukunft

Kristen R. Ghodsee wagt einen Parforceritt durch die Epochen auf der Suche nach Alternativen zum Patriarchat

  • Gerhard Klas
  • Lesedauer: 3 Min.

Radikale Hoffnung statt dystopischer Verzweiflung – nach ihrer Erstveröffentlichung »Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben« übersetzt in 14 Sprachen, hat sich die US-Autorin Kristen R. Ghodsee mit ihrem neuen Buch »Utopien für den Alltag. Eine kurze Geschichte radikaler Alternativen zum Patriarchat« auf die Suche nach den Möglichkeiten grundlegender Veränderungen gemacht. Sie ist fündig geworden: in der griechischen Antike, bei den französischen Frühsozialisten und in zahlreichen nichtwestlichen Gesellschaften. Ihre Leitidee: Glück und Wohlstand für viele statt immer größere Vermögen und Macht für wenige.

Weltweit, so schreibt Ghodsee, werden Frauen in alte, überkommen geglaubte Rollenmuster zurückgedrängt. Die Coronakrise wirkte da wie ein Brandbeschleuniger: Es waren vor allem Frauen, die von Arbeitsplatzverlust betroffen waren, die mehr unbezahlte Sorgearbeit verrichten mussten und vermehrt häuslicher Gewalt ausgesetzt waren. Die US-Sachbuchautorin hat während der Pandemie ihr zweites Buch über neue Gesellschaftsentwürfe geschrieben: Sie sollen die Rolle der Frau stärken, und von ihnen, so meint die Autorin, können auch Männer profitieren. Dies hatte sie auch schon in ihrem ersten Buch postuliert.

Ghodsee blickt nicht nur auf staatliche Lösungen, sondern auch auf selbst organisierte Gemeinschaftsexperimente. Die 400 Seiten ihres Buches führen Leserinnen und Leser in die unterschiedlichsten Regionen der Welt und quer durch sämtliche Epochen der Menschheitsgeschichte. Es ist ein wahrer Parforceritt vom antiken Griechenland über flandrische Beginenhöfe, französische Frühsozialisten, israelische Kibbuzim bis hin zu aktuellen Wohnprojekten.

Wohnen, Arbeiten, Erziehung und Bildung stehen im Zentrum ihrer antipatriarchalen Ansätze. Gut gelungen ist zum Beispiel Godhsees Kapitel über die verschiedenen Bildungssysteme.

Hart geht sie mit dem US-Bildungssystem und seinem völlig individualistischen Ansatz ins Gericht. Es gebe keine wertneutrale Bildung, schreibt sie, und bietet als Gegenmodell etwa die Kommunen des sowjetrussischen Reformpädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko an. Sie sammelten Anfang des vergangenen Jahrhunderts jugendliche Straftäter ein, ließen sie bei sich wohnen und arbeiten, ihnen zugleich Bildung beibringend. Die pädagogischen Erfolge der Makarenko-Kommunen gründeten auf gegenseitiger Achtung und Wertschätzung jedes Einzelnen und seiner Tätigkeit. Die Erfolge waren so durchschlagend, dass sie zum Vorbild für Ausbildungssysteme in vielen anderen Ländern wurden.

Bei der frühkindlichen Erziehung kommt Godhsee sehr schnell zu einer grundsätzlichen Kritik am Kleinfamilienmodell. Als Entwicklungsland in Sachen Infrastruktur macht sie dabei Deutschland aus. In kaum einem anderen Land überwiegt so sehr die Vorstellung, dass Erziehung primär eine Aufgabe der Kleinfamilie sei. Diese sei aber in der Regel damit überfordert: Allein das Zeitmanagement erfordere höchste Disziplin; steige dann auch noch der ökonomische Druck, komme es häufig zu Verzweiflung und häuslicher Gewalt.

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Noch schlimmer sei es in den USA, wo es eine regelrechte ideologische Verehrung der Kleinfamilie gebe. Eine erfolgreiche Kindererziehung erfordere hingegen – nach dem Motto »Es braucht ein ganzes Dorf« – gemeinschaftliche Ansätze und viel gesellschaftliche Unterstützung, die weit über die Kleinfamilie hinausgingen.

Godhsees Buch ist interdisziplinär, es gründet auf soziologischen, anthropologischen, politologischen und philosophischen Arbeiten zahlreicher Wissenschaftler*innen. Wir brauchen mehr utopisches Denken, schreibt Ghodsee. Da ist ihr in einer Zeit der Agonie und rückwärtsgewandter rechter Gesellschaftsentwürfe ohne Frage zuzustimmen. An manchen Stellen wirken ihre Vorschläge allerdings etwas schematisch und idealistisch, etwa wenn sie sexuellen Missbrauch und Gewalt an Schutzbefohlenen in gemeinschaftlichen Erziehungseinrichtungen nicht erwähnt.

Trotzdem: Dieses Buch ist ein insgesamt inspirierender Beitrag in einer Zeit, in der ein reaktionäres Frauenbild, Queerfeindlichkeit und engstirniger Nationalismus rechter Politik überall auf dem Vormarsch sind. Kristen R. Godhsee skizziert zahlreiche potenzielle und bereits reale Meilensteine auf dem Weg in eine nicht-kapitalistische, solidarische Zukunft ohne Patriarchat.

Kristen R.Ghodsee: Utopien für den Alltag. Eine kurze Geschichte radikaler Alternativen zum Patriarchat. A. d. Engl. v. Laura Su Bischoff und Ulrike Bischoff. Suhrkamp, 430 S., geb., 28 €.

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