Adieu Alphabet

Der Leipziger Buchpreis könnte erstmals auch an Formate gehen in denen Schrift nicht mehr so wichtig ist – doch können wir denken, ohne zu lesen?

  • Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist wieder Leipziger Buchmesse – und für den von ihr jährlich vergebenen Preis sind, wie schon vor einigen Wochen bekanntgegeben wurde, erstmals zwei neue Formate nominiert: eine Graphic Novel in der Rubrik »Belletristik« (»Genossin Kuckuck« von Anke Feuchtenberger), und ein Hörbuch für den Preis in der Rubrik, die »Sachbuch« heißt (»Jahrhundertstimmen 1945-2000«, herausgegeben von Hans Sarkowicz, Ulrich Herbert, Michael Krüger, Ines Geipel und Christiane Collorio). Aus der Sicht von Menschen, deren Fähigkeit zu denken, zu unterscheiden und zu kritisieren sich einstmals noch durch die mühsame Lektüre längerer, zusammenhängender Texte bildete und schulte, ist das nicht zu beklagen – aber unbedingt zu beachten.

»Nicht weil ihnen danach zumute war, haben die Völker lesen und schreiben gelernt, sondern weil sie dazu gezwungen worden sind«, stellte Hans Magnus Enzensberger vor über 30 Jahren in einem brachialen Rückblick auf das 19. Jahrhundert fest. »Ihre Emanzipation war zugleich eine Entmündigung. Von nun an unterlag das Lernen der Kontrolle des Staates und seiner Agenturen: der Schule, der Armee und der Justiz.« Enzensberger präsentierte sich als kalter Kritiker bildungsbürgerlicher Sentimentalitäten und blendete die Kehrseite des Prozesses aus, nämlich die Arbeiterbildung. Die hatte allerdings, wie man weiß, nicht zur Herausbildung eines revolutionären Subjekts geführt, sondern zur maximalen Integration der Arbeiterklasse für die Zwecke der nationalen Wettbewerbsstaaten (um es mit Joachim Hirsch zu sagen). Das mag Enzensberger zu jener Vernachlässigung motiviert haben. Aber er hatte eine ganz und gar undialektische Vorstellung von der Epoche der Aufklärung. »Der Zweck, den die Alphabetisierung der Bevölkerung verfolgte, hatte nichts mit Aufklärung zu tun«, schrieb er weiter: »Die Menschenfreunde und die Priester der Kultur, die für sie eintraten, waren nur die Handlanger der kapitalistischen Industrie, die vom Staat verlangte, dass er ihr qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung stellte.« Dass die Dialektik der Aufklärung genau in solchen Widersprüchen besteht – geschenkt. Vieles stimmt ja an Enzensbergers Befund; nicht zuletzt die traurige Feststellung, dass »der Triumph der Volksbildung in Europa mit der maximalen Entfaltung des Kolonialismus zusammenfällt«.

Was man unter Alphabetisierung verstand, war nicht immer dasselbe. Vor knapp 100 Jahren nannte Walter Benjamin Menschen, die nicht in der Lage sind, Bilder zu verstehen, die Analphabet*innen des 20. Jahrhunderts. Damals ging das Zeitalter zu Ende, das Marshall McLuhan eine Generation später marktschreierisch die »Gutenberg-Galaxis« nannte. Wer sich zurechtfinden und seine Arbeitskraft verkaufen musste, indem sie oder er diese an komplizierten Maschinen und Geräten zur Anwendung brachte, musste nicht nur des Lesens und Schreibens kundig, sondern auch den visuellen Signalen und Sprachen der Moderne gewachsen sein.

Benjamin war überzeugt: Die Überwindung des visuellen Analphabetentums ist die Bedingung für sozialen Fortschritt. Anfang der 1970er Jahre schrieb Bazon Brock in ähnlichem Geist: »Wir müssen lernen, in Bildern zu denken«. Heute würde man die »Welt mehr in Bildern (durch Fernsehen, Film, Zeitung, Werbung, Dekoration, Design) als in Wortsprachen wahrnehmen«. Brock sah die »Bildanalphabeten« als die Opfer »im kommenden Bilderkrieg«.

Diese Gefahr ist mittlerweile gebannt. Das Gegenstück zum Rückgang der Schrift- und Lektürekompetenz, den Bildungsstatistiken alljährlich vermelden, ist eine wachsende Bildkompetenz in Rezeption und Produktion. Alarmistische Traditionalist*innen bekommen angesichts dessen Schnappatmung. Sie verschließen sich dem irritierenden Gedanken, dass die Verlustbilanz womöglich weniger schlimm ausfällt, wenn man sich klar macht, dass etwa vom deutschen Schrifttum seit der Etablierung des Buchdrucks vielleicht nicht mehr als ein Prozent wert ist, gelesen, erinnert und überliefert zu werden. (Das ist eine intuitive Einschätzung, ich bin kein Statistiker. Doch hält man sich beispielsweise vor Augen, dass der Suhrkamp Verlag inzwischen sogar die Tagebücher von Peter Sloterdijk publiziert, mag die Zahl eine gewisse Plausibilität haben.)

Die digital-kapitalistische Industrie erzwingt immer weniger traditionelle Alphabetisierung. Wer heute Maschinen, Geräte und Waffen zu bedienen hat, muss nicht unbedingt lesen und schreiben können. Sie oder er muss den Sinn von Visualisierungen erfassen und kapieren, worum es in Texten geht, die vorgelesen werden. Im Entertainment-Bereich boomen die Sparten Videospiel und Hörbuch seit Jahren. Hier werden die nötigen Skills gelernt, die man in der Produktion, in Distribution und Administration sowie zum staatlich organisierten Töten braucht. Dabei ist freilich vorausgesetzt, dass es Menschen gibt, die noch lesen und schreiben können. Denn Hörbücher und Videospiele (die ja digital visualisierte Texte sind) müssen hergestellt werden, und die sogenannte künstliche Intelligenz kann sich bislang noch nicht selbst programmieren und trainieren.

Vermutlich wird es in nicht allzu ferner Zukunft eine kleine Kaste von Menschen geben, die des Alphabets kundig sind, und das Herrschaftswissen verwalten und pflegen können. Die große Zahl der Text-Analphabet*innen des 21. Jahrhunderts wird Bilder deuten können. Mit Bazon Brock könnte man sagen: Sie wird »in Bildern denken« können. Die Frage ist nur, ob da wirklich von Denken die Rede sein kann. Ich meine: Ohne die Voraussetzung des Lesens und Schreibens kann man Vorstellungen haben, aber keine Begriffe. Und, wie Kant wusste: »Anschauungen ohne Begriffe sind blind«. Das klingt nicht gerade inklusiv und keinesfalls sehr ermutigend. Aber kritisches Denken, das bestehende Zustände radikal in Frage stellen will, wird nicht darum herumkommen.

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