Berliner Kriminalstatistik: Gefahrengebiet Zuhause

Die Kriminalstatistik der Berliner Polizei verzeichnet für 2023 eine Zunahme häuslicher Gewalt

Die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik werfen ein Schlaglicht auf soziale Probleme.
Die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik werfen ein Schlaglicht auf soziale Probleme.

In der Hauptstadt nimmt die Kriminalität zu – das geht zumindest aus der Kriminalstatistik der Berliner Polizei für 2023 hervor, die am Mittwoch veröffentlicht wurde. 536 697 mutmaßliche Straftaten registrierte die Polizei demnach im vergangenen Jahr, 3,2 Prozent mehr als 2022.

Die Kriminalstatistik ist jedoch mit Vorsicht zu genießen. Berlin wächst kontinuierlich, proportional zur Zahl der Einwohner*innen bleibt die Anzahl der Verbrechen deshalb ungefähr gleich. Außerdem handelt es sich um eine Eingangsstatistik, die angezeigte, aber noch nicht bewiesene Straftaten abbildet. Straftaten ohne Anzeige bleiben im Dunkelfeld. Und zu guter Letzt findet die Polizei Kriminalität dort, wo sie sucht. »Viele Kontrolldelikte sind einfach abhängig von der polizeilichen Kontrolltätigkeit, gerade Drogendelikte oder Schwarzfahren«, sagt Niklas Schrader, innenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, zu »nd«.

Trotzdem lohnt sich ein Blick auf manche Entwicklungen. So verzeichnet die Polizei einen Anstieg bei häuslicher Gewalt um 8,8 Prozent. 18 784 Menschen wurden 2023 Opfer von Gewalt durch Partner*innen oder Familienmitglieder, 70 Prozent der Betroffenen waren Frauen und 75 Prozent der Tatverdächtigen Männer. 2022 zählte die Polizei 17 263 Opfer. Nicht nur im Vergleich zum Vorjahr, sogar über zehn Jahre betrachtet erreichen die der Polizei bekannten Fälle häuslicher Gewalt einen Rekordwert.

Der CDU-Abgeordnete Burkard Dregger nutzte den traurigen Rekord am Mittwoch für die eigene politische Agenda. Er forderte im RBB den verstärkten Einsatz von Bodycams auch in Wohnungen. »Wir wissen aus Studien und Erfahrungswerten anderer Länder, dass bereits die Androhung des Einsatzes der Bodycam deeskalierende Wirkung hat«, behauptete er. Schrader widerspricht deutlich: »Das wird weder die Aufklärungsrate erhöhen noch häusliche Gewalt verhindern, weil die Polizei ja erst kommt, wenn die Gewalt schon passiert ist.«

Kristin Fischer, Koordinatorin bei der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG), hält ebenfalls nicht viel von Dreggers Vorschlag. Sie wünscht sich stattdessen eine gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung: »Es braucht Fortbildungen in der Justiz, in der Sozialarbeit, im Gesundheitswesen, für alle, die mit dem Thema in der beruflichen Laufbahn konfrontiert sein könnten.« Zudem sollte der Senat Gewaltschutzangebote und Präventionsprojekte dauerhaft finanziell absichern. »Es ist grundsätzlich schwierig ohne Planungssicherheit, und wenn die Perspektive fehlt, springen uns Fachkräfte ab.«

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BIG erreichten 2023 nicht eindeutig mehr Anfragen von Gewaltbetroffenen oder Unterstützer*innen. »Wir sehen anhaltend hohe Zahlen.« Die gestiegenen Fallzahlen bei der Polizei ließen sich unter anderem mit einer höheren Anzeigebereitschaft erklären. Trotzdem habe sich die Lage verschärft: Die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie, Existenzängste mit Blick auf den Wohnungsmarkt, finanzielle Sorgen, »das sind alles gewaltfördernde Strukturen«. Zugleich werde es für Betroffene schwieriger, sich aus gewaltvollen Beziehungen zu lösen, wenn ihr Aufenthaltstitel oder ihr Zuhause vom Täter abhänge. Fischer ärgert es, dass die Öffentlichkeit nur bei einem Anstieg der Fallzahlen aufschreit: »Egal wie groß die Zahl ist, jegliche Gewalt in Familien und Paarbeziehungen ist furchtbar. Es kann nicht sein, dass wir uns damit abfinden.«

Ein weiteres Schlaglicht wirft die Kriminalstatistik auf Jugendgruppengewalt. Die hat mit einer Steigerung von 9,8 Prozent auf insgesamt 2056 verzeichnete Fälle im Vergleich zur allgemeinen Kriminalität deutlich stärker zugenommen. Grund zur Sorge, meint Schrader, schließlich sei die Jugendgruppengewalt lange Zeit zurückgegangen. »Und jetzt droht die Gefahr, dass die Basisversorgung in der Jugendhilfe gekürzt wird. Das wäre eine fatale Entwicklung.«

Schrader bezieht sich auf die Sparvorgaben im Doppelhaushalt, die alle Verwaltungen und die Bezirke zum Sparen zwingen und die für große Unsicherheit bei sozialen Trägern sorgen. Dass der Senat auf dem Gipfel gegen Jugendgewalt mehrere Millionen Euro in Gewaltpräventionsprojekte steckte, stellt für den Linke-Politiker keinen Ausgleich dar: »Es helfen keine punktuellen Gipfel, wenn die Basisversorgung zusammenbricht.«

Thomas Fertig von Aspe, der ambulanten sozialpädagogischen Erziehungshilfe, stimmt zu: »Alle Arbeit, die wir machen, ob Familienhilfe, Schulsozialarbeit oder Straßensozialarbeit, ist Gewaltprävention. Wenn das massiv bedroht ist, kann das natürlich ein oder zwei Jahre später eine verstärkte Gewaltentwicklung zur Folge haben.« Doch es mangele nicht nur an Geld, sondern vor allem an Fachkräften. »Das ist ein strukturelles Problem.«

Hier finden Sie Hilfe bei häuslicher Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder:
BIG-Hotline: (030) 611 03 00
Bundeshilfetelefon: 116 016

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