Künstler Dieter Roth - Das große braune Armageddon

Der Künstler Dieter Roth und seine verstörenden Schokoladenwerke

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 5 Min.
Lebensmittel in der Vitrine: zwei schokoladene Selbstbildnisse von Dieter Roth
Lebensmittel in der Vitrine: zwei schokoladene Selbstbildnisse von Dieter Roth

Schokolade, liebe Kinder, ist nicht immer süß und lecker. In der Welt des Bitteren kann sie ziemlich bitter schmecken. Ich meine die Welt des Künstlers Dieter Roth (1930–1998), der sich selbst aus Schokolade goss und sich dann, gewissermaßen unter seinem eigenen Gewicht, zusammenbrechen ließ. Ganze Landschaften aus Schokolade entstanden von seiner Hand, wurden trübe, trocken, brüchig, Insekten nisteten sich ein, bis das Ganze, zum Schrecken verzweifelter Konservatoren, zerbröselte und zerstäubte.

Dabei hatte alles harmlos angefangen, mit Pralinen und Schokoküssen. Auf Mitte der 60er Jahre datiert Dirk Dobke, der führende Experte für Roth, des Künstlers ersten Einsatz von schokoladehaltigen Materialien (»Roth-Zeit«, 2003). Auf Kaltnadelradierungen walzte Roth die Pralinen und Küsse aus, die sich damals mit Wurst und Milchprodukten abwechselten. In dieser Phase erscheint Vergänglichkeit noch auf recht vergnügliche Weise. Man denke an die »Sonnenuntergänge« (1968), auf denen unser heimischer Stern von einer Scheibe Salami dargestellt wird.

Keineswegs funktionieren diese Bilder nur so lange, solange die Salami nicht verschimmelt und vergangen ist. Nein, gerade wenn von dieser lediglich ein Fettfleck übrig ist, hat die Sonne ein ironisches Nachbild gefunden, sie ist von dem demnächst (in sieben Milliarden Jahren) verglühenden Ball aus Wasserstoff zu einer organischen Spur, einem niedlichen Schmutz geworden. Das ist auch eine Humanisierung.

Doch gibt es bei Roth keine Humanisierung ohne Animalisierung. Davon zeugen die 1966 entstandenen acht »Vogelplatten«. Das sind aparte Tiefdruck-Ätzungen, auf die teils Schokoladenkekse und -eier, teils Spiegeleier gequetscht wurden. Der Titel könnte andeuten, dass mit diesen Werken nicht mehr kunstsinnige Menschen, sondern hungrige Vögel gelockt werden sollen. Denn es folgt aus ihnen ein erster Höhepunkt in Roths Schokoladenkunst: die »Vogelfutterbüste« von 1968; der vollständige, an James Joyce angelehnte Titel lautet »P.O.TH.A.A.VFB (Portrait of the Artist als Vogelfutterbüste)«.

Die Büste, die den damals 38-jährigen Roth als alten Mann zeigt, besteht aus Schokolade, der Vogelfutter beigemischt ist. In den Garten gestellt, wäre des Künstlers Avatar von ebenso wilden wie geschmackssicheren Tieren gefressen worden; das haben selbstverständlich Sammler, Galeristen und andere Nutznießer zu verhindern gewusst. Der belesene Roth spielte damit auch auf das Schicksal des angeketteten Titanen Prometheus an, dessen Leber bei lebendigem Leib von einem Adler aufgepickt wird.

Um das Jahr 1968, in dem Joseph Fischer für seine Rolle als antifaschistischer Kriegsminister zu trainieren begann, hat Roth ein braunes Armageddon aus Schokolade inszeniert. Der Kölner Dom, der Stuttgarter Sendeturm, die Stadt Basel, Puppen, Ritter und sein ikonischer Motorradfahrer – auf oft raumfüllenden Assemblagen versinkt alles in brauner Masse, die nun tatsächlich, Pardon my French, als große Scheiße erscheint.

Stets vorsichtig sollte man damit sein, bei Roth politische Motive zu vermuten. Doch hat er sich sehr plastisch zur Hölle des Nazismus, zu den bibbernd erduldeten Bombennächten geäußert. Über sich selbst schreibt er in seinem »Lebenslauf von 46 Jahren«: »Er wuchs heran, sich unter den bösen Deutschen im horriblen Hannover gewahrend, zur Zeit der tollen Herrschaft eines von den schrecklichen Deutschen herbeigezauberten Wüterichs, Hitler genannt, inniglich gelieber Mörderich, äußerst menschenfressender Bösewicht auf Erden, oft verwechselt mit dem tollen Wüterich im Himmel, Gott genannt, jener Bösewicht, ein äußerst massenmordender Phantombajazzo, oft Herr Hirngespinst genannt.« (»Da drinnen vor dem Auge«, 2005) Und wenn wir dann einen Gartenzwerg in Schokolade versunken sehen, sodass nur noch die Zipfelmütze herausschaut, dürfen wir getrost annehmen, dass damit auch ein Deutscher im braunen Sumpf gemeint ist.

Gleichzeitig tritt der Künstler hier selbst als massenmordender Gott auf. Er ist es ja, der Deutschland und die halbe Schweiz mit Schokoladenschlamm flutet. Doch meistens mordet er sich selbst. Nicht umsonst heißt eine der frühesten Schoko-Arbeiten, ein düsteres Tafelbild, auf dessen Mitte ein Klecks Schokoladencrème geklatscht wurde, »Self Portrait«; es entstand 1964 in den USA, wo Roth damals lehrte, in dem Ort Providence, was »Vorsehung« bedeutet.

Aus dem gestaltlosen Selbstporträt, dem etliche ähnliche folgten, wurden nach der Vogelfutterbüste Ich-Gestalten in Massenfertigung, die der Künstler auf Glas anordnete und übereinanderstapelte. Als »Selbst-« oder »Löwenturm« erreichten diese gestapelten Armeen des Selbst in Basel knapp drei Meter Höhe, in Hamburg, im nach Protesten der Nachbarn abgerissenen »Schimmelmuseum«, ganze acht.

Schokoladenmasse bleibt selbst nach Aushärtung fragil, gerade das nahm Roth für das Material ein. Im Schimmelmuseum war absichtlich nicht für Kühlung gesorgt, also krachte die als neuer Turm von Babel dem tristen Hamburger Himmel zustrebende Konstruktion aus Schokoladen-Selbsten im Sommer regelmäßig zusammen. Sie wurde dann von einem Team von Sisyphussen, meist unter Führung von Björn Roth, dem Sohn des Künstlers, wiedererrichtet.

Roth hielt im Schimmelmuseum die auch in der »Gartenskulptur« (ab 1973) oder in der »Tischruine« (1978–1998) angewandte Methode tapfer durch: nichts aufräumen, nichts wegputzen, nichts ändern. In der Küche standen beispielsweise Elektrokocher zum Verflüssigen der Schokomasse bereit. Diese lief gelegentlich über, eine braune Schicht überzog die Kochplatten. Dann wurde kurzerhand eine Glasscheibe darübergelegt, eine neue Kochplatte draufgesetzt, und weiter ging’s.

Prozesskunst ist Schmutzkunst. Während alles in Dieter Roths Zyklopenhöhle dem Untergang geweiht war, schien das einzig Beständige der feine, vornehme Geruch von Schokolade zu sein, der in der Luft stand. Schokolade vergeht, aber Schokolade bleibt auch. Sie ist der zugleich zähe und flüchtige Stoff, in dem wir alle stecken.

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