Stukenbrocker Appell: Einsatz für sowjetische NS-Opfer

Vor 30 Jahren forderten Antifaschisten im Stukenbrocker Appell Entschädigung für Kriegsgefangene

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 4 Min.
Schon auf dieser Kundgebung zum Antikriegstag 1973 forderten Aktive der Initiative »Blumen für Stukenbrock« eine Gedenkstätte für die im dortigen Lager gequälten und ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen.
Schon auf dieser Kundgebung zum Antikriegstag 1973 forderten Aktive der Initiative »Blumen für Stukenbrock« eine Gedenkstätte für die im dortigen Lager gequälten und ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen.

Deutschland geriert sich gerne als Weltmeister in Sachen Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. Dabei wird gerne vergessen, dass es vor allem engagierte Menschen aus der Zivilgesellschaft waren und sind, die dafür kämpfen, dass die Opfer des NS-Regimes besonders aus Osteuropa entschädigt werden. Und dass es überhaupt Gedenkorte für sie gibt und daran, welche Verbrechen an ihnen begangen wurden.

Opfer von NS-Zwangsarbeit und Kriegsgefangene aus der Sowjetunion galten in der Bundesrepublik lange nicht als entschädigungsberechtigt. Es waren Bürgerinnen und Bürger aus Nordrhein-Westfalen, die sich dafür einsetzten, dass sich daran etwas ändert. Vom 22. bis 24. April 1994 fand in Schloss Holte-Stukenbrock nahe Bielefeld eine Konferenz mit dem Titel »Sowjetische Kriegsgefangene und Kriegsgefangenenlager im Deutschen Reich 1941–1945« statt. Am Rande dieser Konferenz wurde der Stukenbrocker Appell formuliert.

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Initiiert wurde er von der damaligen Studentin und späteren Osteuropahistorikerin Uta Gerlant, Lothar Eberhardt, der sich als erinnerungskultureller Basisarbeiter bezeichnet, sowie dem russischen Historiker Pavel Polian. Erstunterzeichner*innen waren die 50 auf der Tagung anwesenden Historiker*innen.

Gerlant und Eberhardt erläuterten später, warum sie so viel Unterstützung bekamen. Auf der Tagung seien die Teilnehmenden auf die Vereinbarung zu sprechen gekommen, die der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der damalige russische Präsident Boris Jelzin in Moskau getroffen hatten. Darin war von einer »humanitären Regelung für nationalsozialistisches Unrecht« die Rede gewesen.

»Abgesehen von der linguistischen Meisterleistung, uns weismachen zu wollen, nationalsozialistisches Unrecht könne humanitär geregelt werden, fiel uns die allseits herrschende Ratlosigkeit auf: Betroffene aus Russland hatten bei uns nachgefragt, ob wir Näheres über die Umsetzung dieser Erklärung wüßten, worauf verschiedene Verbände Anfragen an Bundestagsabgeordnete richteten«, erinnern sich Gerlant und Eberhardt. Doch die Antworten, die aus der damaligen Hauptstadt Bonn kamen, seien sehr vage geblieben.

Daher forderten die Unterzeichner*innen Klarheit über die Auszahlungsmodalitäten von einer Milliarde D-Mark, welche die Bundesregierung im Dezember 1992 in einem Abkommen mit Russland für NS-Opfer in der Russischen Föderation, Belarus und der Ukraine zugesagt hatte. Neben der zügigen Umsetzung des Abkommens wurde eine Aufnahme der ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen in den Kreis der Empfangsberechtigten gefordert und eine entsprechende Aufstockung der Mittel angemahnt.

Ihr konkretes Anliegen formulierten die Initiator*innen am Schluss des Textes: »Wir appellieren an die verantwortlichen Unterzeichner, dafür zu sorgen, dass die überlebenden Opfer der nationalsozialistischen Willkür möglichst rasch und unbürokratisch das erhalten, was ihnen aufgrund der Vereinbarungen zugesichert wurde.«

Gerlant und Eberhardt koordinierten über mehrere Jahre die Arbeit mit dem Stukenbrocker Appell über das Büro der Aktion Sühnezeichen der Friedensbewegung. Beide bemühten sich darum, den Appell bekannt zu machen. Sie schickten 400 Briefe an Personen des öffentlichen Lebens mit der Bitte um Unterstützung. Nach kurzer Zeit hatten sie von 250 Adressat*innen Unterstützungserklärungen bekommen.

Eberhardt und Gerlant informierten in Rundbriefen regelmäßig die Öffentlichkeit, wie die in dem Appell formulierten Forderungen umgesetzt werden. Für sie war er auch der Einstieg in eine jahrzehntelange erinnerungspolitische Arbeit. So leitete Eberhard über Jahre das Berliner Büro der »Interessengemeinschaft ehemaliger Zwangsarbeiter unter dem NS-Regime«.

Gerlant wurde später Mitarbeiterin der Bundesstiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«. Sie ist Mitbegründerin von Memorial Deutschland. Die Organisation setzt sich für dauerhafte Beziehungen zwischen der russischen und der deutschen Bevölkerung ein. Das ist eine Forderung, die sich nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine besonders schwer umsetzen lässt.

Die aktuellen politischen Entwicklungen zeigen sich auch im Umgang mit dem Kriegsgefangenenlager in Stukenbrock, in dem zwischen 1941 und 1945 mehr als 300 000 sowjetische Kriegsgefangene unter menschenunwürdigen Bedingungen oft in Erdhöhlen vegetieren mussten. Sie mussten Zwangsarbeit in den umliegenden Höfen und Betrieben und teilweise sogar im Ruhrbergbau leisten. Die Todesrate war sehr hoch. Schätzungen zufolge starben im »Stalag 326« mehr als 65 000 Gefangene an Krankheiten und Hunger.

Seit 1996 ist »Stalag 326« ein Erinnerungsort für die sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter. Im letzten Herbst war er kurzzeitig geschlossen worden, weil der zuständige Kreistag mit den Stimmen von CDU und AfD die weitere Beteiligung an der Finanzierung ablehnte. Die Schließung konnte verhindert werden, nachdem sich der Kreistag auf eine geringere Summe verständigte.

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