Nahost: Angst vor dem großen Krieg

An der Grenze zwischen Israel und Libanon spitzt sich die Lage zu

  • Mirco Keilberth, Schlomi (Israel)
  • Lesedauer: 5 Min.
Im Norden Israels bereiten sich Soldaten auf einen Angriff der Hisbollah vor.
Im Norden Israels bereiten sich Soldaten auf einen Angriff der Hisbollah vor.

Das Neubaugebiet in Schlomi steht an einem überraschenden Platz. Keine hundert Meter trennen die noch im Rohbau befindlichen Häuser von der Grenze zum Libanon. Direkt hinter dem Grenzstein erstreckt sich ein dicht bewachsener Wald, oben auf dem Berg sieht man die Radaranlage einer israelischen Militärbasis. »Die Grenzziehung für uns und andere unterhalb der Bergkette gelegene Orte ist ungünstig«, sagt mein Begleiter Lucy Yosef. »Aber vergessen sie nicht, dass es hier 24 Jahre absolut ruhig war.« Der Bürgermeister der ruhigen 70 000- Einwohnergemeinde im Norden Israels hält das riesige Neubau- und danebenliegende Industriegebiet für ganz normal. »Junge Leute fühlten sich hier bis zum 9. Oktober so sicher wie in jeder europäischen Kleinstadt. Denn die oft nur wenige Hundert Meter entfernte Hisbollah hatte eine Generation lang kein Interesse an irgendeiner Form von Eskalation

Der Angriff der mit der Hisbollah verbündeten Hamas hat den Norden Israels stärker verändert als irgendeine andere Region Israels. 70 000 Bewohner haben sich vor dem sporadischen Raketenbeschuss der libanesischen Miliz bei Verwandten oder in Hotels in Sicherheit gebracht. Auch wenn der Staat die Kosten für Evakuierung übernimmt, das Leben steht still zwischen dem am Mittelmeer gelegenen Schlomi und den von Israel besetzten Golan-Höhen. Im Januar war Lucy Yosef noch optimistisch, dass die meisten Bewohner spätestens in diesem Sommer zurückkehren können. Mit einer von einem lokalen Start-up-Unternehmen entwickelten App hält er die in ganz Israel verstreut lebenden Menschen auf dem Laufenden.

»Smart City« Schlomi

Schlomi sei nun eine »Smart City«, sagt Yosef stolz, denn sämtliche Dienstleistungen der Stadtverwaltung können nun per Smartphone abgewickelt werden. Das milde Klima, die weißen Mittelmeerstrände und die unberührte Natur hat viele junge IT-Unternehmer aus Tel Aviv in die vermeintlich isolierte Region gelockt. Aber die Nachrichten, die der 60-jährige ehemalige Armeeoffizier heute schickt, machen wenig Hoffnung, dass sich die gähnend leeren Straßen bald wieder mit Leben füllen. Schlomi droht nun das Schicksal, eine virtuelle Stadt zu werden. Statt wie erhofft zurückzukehren, könnten die Bewohner sogar gezwungen sein, noch weiter als die bisher vorgeschriebenen 15 Kilometer gen Süden zu ziehen.

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Denn nach den Eskalationen der vergangenen Tage könnte ein Einmarsch der israelischen Armee in den Libanon unmittelbar bevorstehen. Dann könnte die nach eigenen Angaben 20 000 Mann starke Hisbollah mit einem Raketenarsenal antworten, das die im Gazastreifen selbst gebauten Geschosse der Hamas in den Schatten stellt.

Bisher hielten sich die manchmal im dichten Grün oberhalb von Schlomi versteckten Kämpfer taktisch zurück. »Einzelne Angriffe von den Hügeln mit Panzerabwehrraketen reichten aber schon, um die Bauern im gesamten Norden Israels von ihren Feldern fernzuhalten«, sagt Lucy Yosef. »Unter solchen Umständen ist auch nach einem möglichen Waffenstillstand in Gaza kein normales Leben möglich.«

Auch auf der anderen Seite der als natürliche Grenze dienenden Bergkette sind die Bewohner geflohen. Nach Hisbollah-Angriffen auf Israel gingen bisher in 17 Gemeinden im Süden Libanons israelische Artilleriegranaten und Raketen nieder. Auch hier leben die meisten Menschen von Landwirtschaft. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft der Regierung in Jerusalem vor, durch den Beschuss mit weißem Phosphor Waldbrände auszulösen und den Menschen die Lebensgrundlage zu entziehen. Videoaufnahmen zeigen, wie über Boustane und anderen libanesischen Dörfern Hunderte kleiner, mit der giftigen Chemikalie gefüllten Geschosse niedergehen.

Das Brummen der israelischen Panzer

Der Einsatz des weißen Phosphors könnte ein erstes Indiz für eine mögliche Offensive der israelischen Armee sein, das erste Mal seit 24 Jahren. Bei der letzten Besetzung Südlibanons war auch Lucy Yosef dabei. »Wir kennen das Terrain bis zum Litani-Fluss sehr gut, die größte Gefahr dort ist die dichte Vegetation.«
Laut einer Resolution des UN-Sicherheitsrates hätte sich die Hisbollah längst hinter den 30 Kilometer von der Grenze entfernten Fluss zurückziehen müssen.

Doch die Führung der schiitischen Kämpfer in Beirut weigert sich beharrlich. Frankreich schlug im Februar eine zehn Kilometer lange Pufferzone vor. Ein kurzes Video hat die laufenden Verhandlungen für eine friedliche Beilegung des Grenzkriegs und die Rückkehr der Bewohner torpediert. In den von der Hisbollah verbreiteten Aufnahmen ist zu sehen, wie ein zum »Iron Dome«-Schutzschild gehörender israelischer Raketenwerfer getroffen wird. Der vermeintlich erfolgreiche Hisbollah-Angriff auf Israels Raketen-Abwehrschirm ist für viele Bewohner das Startsignal, wieder ihre Koffer zu packen.

In Naharia, dem großen Verkehrsknotenpunkt des Nordwestens, herrschte vergangene Woche gespannte Ruhe. Viele Menschen weigern sich, weiter nach Süden auszuweichen. »Ich traue unserer Armee zu, im Libanon in wenigen Tagen eine Pufferzone zu schaffen«, sagt ein Taxifahrer. »Wir haben auch keine Wahl. Die Lebenshaltungskosten in Tel Aviv kann sich niemand von uns leisten.«

Am Mittwoch stimmte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Israelis bei einem Besuch in der Grenzstadt Kirjat Schmona auf einen zweiten Waffengang ein. »Wir sind bereit für ein sehr intensives Vorgehen.« Zuvor hatten Waldbrände mehr als 400 Hektar Wald in Biria zerstört. Während in Grenznähe offenbar Drohnenangriffe der Hisbollah die Feuer ausgelöst hatten, waren in Biria und der nördlichen Galiläa-Region wohl niedergehende Raketen des Iron-Dome-Abwehrschirms die Auslöser.

»Die trockene Sommerhitze stellt auf beiden Seiten der Grenze eine völlig unberechenbare Gefahr dar«, sagt Avichai Stern, der Bürgermeister von Kirjat Schmona, der nördlichsten Stadt Israels. Die meisten der 25 000 Einwohner sind geflohen.

Wie viele hofft auch der 38-Jährige, dass die derzeitige Eskalation mit den Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit der Hamas zusammenhängt. 4000 Raketen seien seit Oktober letzten Jahres auf die Geisterstadt gefallen, berichtet er. Die Entscheidung, wie es weiter geht, ist auf beiden Seiten der Grenze noch nicht gefallen. Naim Qassem, der Vize-Kommandeur der Hisbollah, warnte am Dienstag: »Wir wollen keinen regionalen Krieg. Aber wenn er uns aufgezwungen wird, sind wir dafür bereit und werden uns nicht zurückziehen.«

In Schlomi ist das Brummen der israelischen Panzer allgegenwärtig. »Ich weiß selber nicht, ob mich das beruhigt oder ängstigt«, sagt einer der wenigen verbliebenen Passanten und blickt auf die Grenze oberhalb der Stadt.

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