Der EM droht ein Ballgeschiebe-Pakt

Weil alle Teams in Gruppe E punktgleich in den letzten Spieltag gehen, könnte die Ukraine ein unsportliches Turnierende ereilen

  • Maik Rosner, Stuttgart
  • Lesedauer: 4 Min.
Werden Milan Skriniars Slowaken und ihre rumänischen Gegner auf Unentschieden spielen?
Werden Milan Skriniars Slowaken und ihre rumänischen Gegner auf Unentschieden spielen?

Wenn an diesem frühen Mittwochabend die Entscheidung über den Achtelfinaleinzug in der Gruppe E ansteht, könnte es trotz eines Novums zu einer Wiederholung kommen. Was paradox klingt, erschließt sich bei genauerer Betrachtung der Konstellation und Tabelle, in der Rumänien, Belgien, die Slowakei und die Ukraine nach zwei Spieltagen je drei Punkte aufweisen. 

Nie zuvor hatte es solch einen Gleichstand vor einem Abschlussspieltag einer EM-Gruppe gegeben. Doch die vermeintliche Hochspannung könnte in Wahrheit in einer ähnlich unsportlichen Entscheidung münden wie bei der WM 1982 in Spanien. Am damaligen 25. Juni, also exakt 42 Jahre und einen Tag vor dem Abschluss der aktuellen EM-Vorrunde, froren Deutschland und Österreich im Spielort Gijón das Spiel beim Stande von 1:0 für die Deutschen mit Ballgeschiebe gewissermaßen ein, weil beide Teams mit diesem Ergebnis sicher weiterkamen. Der Nichtangriffspakt ging als »Schande von Gijón« in die Geschichte ein. Das punktgleiche Algerien hatte bereits am Vortrag gespielt und musste machtlos zusehen, wie die beiden europäischen Nachbarn es aufgrund der schlechteren Tordifferenz ausscheiden ließen.

So ähnlich könnte das auch diesmal laufen. In Stuttgart werden sich die Ukraine und Belgien gegenüberstehen, parallel dazu sind die Slowakei und Rumänien in Frankfurt miteinander verabredet. Alle vier wären mit einem Sieg sicher weiter. Für die Slowakei und Rumänien aber gilt auch – und das ist die Gefahr –: Beide kämen auch dann sicher ins Achtelfinale, sollten sie sich auf ein Unentschieden »einigen«. Denn mit je vier Punkten würden sie garantiert mindestens zu den besten vier Gruppendritten dieser EM zählen. Kroatien (zwei Zähler) und Ungarn (drei) lägen als schlechtere Gruppendritte dahinter.

Das bedeutet auch: Sollten die Ukraine und Belgien ebenso unentschieden gegeneinander spielen wie die Slowakei und Rumänien, hätten zwar alle vier Mannschaften danach vier Punkte. Dennoch wäre die Ukraine die Leidtragende, weil sie wie einst Algerien die schlechteste Tordifferenz in der Gruppe aufweist und so als Tabellenvierte ausscheiden würde, trotz des höheren Punkteertrags als fast jeder Dritte in den anderen Gruppen.

Im Gegensatz zu den bemitleidenswerten Nordafrikanern hat die Ukraine ihr Schicksal immerhin in der eigenen Hand. Gewinnt sie, erreicht sie sicher das Achtelfinale. Möglich wäre dann sogar der Gruppensieg. Das wäre dann der vorläufige Höhepunkt einer politisch und emotional aufgeladenen EM-Kampagne. »Wir sind uns der Verantwortung bewusst, die dieses Spiel mit sich bringt«, sagt Linksverteidiger Oleksandr Sintschenko und erinnerte einmal mehr an die Millionen Landsleute und besonders die Soldaten an der heimischen Front.

Tränen der Rührung waren nach dem 2:1-Sieg gegen die Slowakei bei manch einem Spieler und Fan der Ukraine geflossen. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte den Erfolg weiter aufgeladen mit einer übergeordneten Bedeutung. »Wir alle müssen an unserer eigenen Stelle kämpfen, für Freiheit, Leben und die richtige Wahrnehmung der Ukraine in der Welt«, hatte er gesagt und mit Blick aufs Spiel gegen Belgien appelliert: »Weiter geht’s, Leute! Es steht der nächste wichtige Kampf an.« Erneut geht es für die Mannschaft also auch darum, ob sie den Menschen in der Heimat Freude und Ablenkung vom Kriegsleid spenden kann.

Der ewige Geheimfavorit Belgien steht dagegen in der Pflicht, zumindest eine Niederlage zu vermeiden. Verliert die Mannschaft des in die Kritik geratenen Trainers Domenico Tedesco bei einem gleichzeitigen Remis zwischen der Slowakei und Rumänien, wäre der Favorit der Gruppe E wie schon bei der WM 2022 nach der Vorrunde ausgeschieden. Ihre erste große Drucksituation bei dieser EM hatten die Belgier gemeistert. Nach der 0:1-Auftaktniederlage gegen die Slowakei gewannen sie 2:0 gegen Rumänien und verpassten dabei sogar einen höheren Sieg. Als »sehr gut« hatte Kapitän Kevin De Bruyne die Leistung danach eingestuft. Nun würde Belgien schon eine befriedigende Leistung in Form eines 0:0 zum Weiterkommen reichen.

Im Gegensatz zu den Algeriern 1982 hat die Ukraine ihr Schicksal immerhin in der eigenen Hand.

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