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Linke in Frankreich: Hoffnung in der Banlieue
Die linke Basis in den Pariser Vororten dringt nach der Wahl auf eine engagierte Sozialpolitik. Aber die Regierungsbildung ist ins Stocken geraten
Nationalfeiertag in der Pariser Banlieue: Der Rasen zwischen den Wohnblöcken ist festlich hergerichtet, rot-weiß-blaue Girlanden schwingen in der Nachmittagssonne. Ein paar Dutzend Anwohner*innen haben sich eingefunden, darunter viele Kinder. Es gibt selbstgebackenen Kuchen und eine Schnitzeljagd. Zum »Fest der Revolution« am 14. Juli hat der gerade wiedergewählte Abgeordnete Antoine Léaument von der Linkspartei La France Insoumise (LFI, »Unbeugsames Frankreich«) nach Sainte-Geneviève-des-Bois geladen, zwei weitere seiner Fraktionskolleginnen aus der Region sprechen ein Grußwort.
»In der Republik sagt das Volk, wo es langgeht, nicht ein kleiner König«, ruft der 34-jährige, jungenhaft wirkende Kommunikationsprofi, der die Banderole in den Nationalfarben angelegt hat, »Emmanuel Macron ist das Problem des französischen Volkes«. Nachdem der Präsident ohne Not die Nationalversammlung aufgelöst hatte, verwies das Wahlvolk eine Woche zuvor das ultrarechte Rassemblement National (RN, »Nationale Vereinigung«) durch taktische Stimmabgabe für den jeweils besser platzierten Kandidaten der Mitte oder der Linken auf den dritten Platz. Eine Welle der Erleichterung ging durch das republikanisch gesinnte Frankreich.
Denn noch vor 14 Tagen hatte es nach einem klaren Sieg des RN ausgesehen, selbst die absolute Mehrheit schien denkbar. »Werde ich in zwei Stunden noch Franzose sein?«, habe ihn am ersten Wahlabend ein Jugendlicher gefragt, berichtet Léaument auf dem Nachbarschaftsfest. »Jetzt müssen wir unser Programm umsetzen – Mindestlohn 1600 Euro, Rücknahme der Rentenreform, Preiskontrollen.«
Frankreichs Linke befindet sich in Aufbruchstimmung: Im Parlament stellt die in der Not zusammengebastelte Nouveau Front Populaire (NFP, »Neue Volksfront«) aus LFI, Sozialistischer Partei, Ökos und Kommunist*innen vor den neoliberalen Macronisten und der extremen Rechten völlig überraschend die größte Fraktion. Aber die Regierungsbildung wird schwierig, denn jedes Lager hat nicht einmal ein Drittel der Sitze – hinzu kommen, deutlich schwächer, die Konservativen.
Eigentlich müsste der Präsident eine von den Sieger*innen vorgeschlagene Person zum Premierminister ernennen – dagegen aber sträubt sich Macron. Der selbstherrliche Staatschef und die LFI um den umstrittenen Volkstribun Jean-Luc Mélenchon sind sich in heftiger Abneigung verbunden. »Macron ist eine Gefahr für die Republik«, ruft Antoine Léaument und setzt beschwörend hinzu: »Wir müssen mobilisieren.« Dass sich die Sozialisten und die radikale Linke gerade tagelang öffentlich darüber streiten, wer nun die Regierung anführen soll, das wiederum freut ihre Gegner*innen und frustriert viele Unterstützer*innen.
Das benachbarte Viry-Châtillon, mit dem Zug eine halbe Stunde vom Pariser Zentrum entfernt, ist auch so eine typische Banlieue-Kleinstadt. Neben der Arbeitersiedlung La Cilof gibt es ein schönes, aber fast menschenleeres historisches Zentrum und viele Einfamilienhäuser. Das Industriegebiet liegt direkt am Seineufer. Ein künstlicher See und mehrere Sportanlagen sorgen für ein breites Freizeitangebot.
Im April war die 30 000-Einwohner-Gemeinde Tagesgespräch in ganz Frankreich: In La Cilof wurde der 15-jährige Schüler Shemseddine von vier älteren Jugendlichen mit Faustschlägen und Fußtritten totgeschlagen, weil er über Whatsapp mit einer Klassenkameradin »geflirtet« hatte. Unter den Tätern befinden sich zwei Brüder der Schülerin. Millionenfach flimmerten die Bilder von den trauernden Mitschüler*innen und dem weinenden Bürgermeister Jean-Marie Vilain in die Wohnzimmer der Nation.
Nun sitzt Vilain, 65, ein jovialer und dynamischer »Rentner«, wie er sagt, in seinem Rathausbüro und skizziert in groben Zügen die Lokalpolitik der letzten Jahrzehnte. Ab 1953 dominierte die bürgerliche Rechte, erst von 1995 bis 2014 gaben Linke den Ton an – doch zuletzt zeichneten sie sich durch Vetternwirtschaft und eine unsolide Haushaltsführung aus, das bestätigen auch Sympathisant*innen. Im Gemeinderat sind die Progressiven jetzt nur noch eine Randerscheinung, seit zehn Jahren regiert der Rechtsliberale Vilain mit großer Mehrheit.
Aber warum war sein Kandidat Robin Reda nach sieben Jahren in der Nationalversammlung bei dieser Wahl chancenlos? »Das war die landesweite Dynamik«, seufzt der Bürgermeister, der als Nachrücker auf dem Wahlzettel stand. In der zweiten Runde buhlten die beiden offen um die RN-Wähler*innen. »Eine taktische Stimme gegen die LFI« ließen sie auf die Plakate kleben. Doch nur jeder Dritte im Wahlkreis gab ihnen die Stimme. Vor allem die »Neue Volksfront« brachte viele chronische Nichtwähler an die Urnen und kam schließlich auf 44 Prozent, doppelt so viel wie das RN. »Das Programm der Linken ist unseriös«, ereifert sich Vilain: »Wenn wir allen Angestellten der Gemeinde eine zehnprozentige Lohnerhöhung geben müssten, würde uns das 2,5 Millionen Euro im Jahr kosten!«
Einen Kilometer vom Rathaus entfernt liegt La Cilof mit seinen Sozialwohnungen, die Infrastruktur stimmt, und doch gilt es als Problemviertel. »Paris lässt uns im Stich«, sagt der Bürgermeister, der ein »allmähliches Abgleiten in die Armut« festgestellt hat. Hier haben die meisten eine Migrationsgeschichte und Angehörige im südlichen Afrika, in der Karibik oder im Maghreb.
Die Linke gewann hier ebenfalls klar, aber auch das RN ist stärker als anderswo. »Schade, dass die nicht gewonnen haben«, sagt der Portugiese Antonio Fonseca, seine drei Kinder gehen auf dieselbe Schule wie der getötete Jugendliche Shemseddine. »Das Misstrauen hier im Viertel ist groß, und überall wird gedealt«, schimpft der frühere Fallschirmjäger. »Und die Einwanderer, zum Beispiel die aus Rumänien, die leben ja nur auf unsere Kosten.«
Mit Politik haben die meisten hier nicht viel am Hut. »Das ist mir alles egal, gewählt habe ich auch nicht«, bekennt Yannick, 20, gestylte Dreads, schicke Sneakers. Froh ist er trotzdem, dass »die Rassisten verloren haben«. Kevin Zougou stimmt zu. Er ist als Jugendlicher aus dem Kongo gekommen, um sich zum Banker ausbilden zu lassen. Der smarte 27-Jährige wohnt bei seiner Mutter, träumt von einem Aufenthalt in den USA und findet die immer noch regierenden Neoliberalen gar nicht so schlecht.
Am Rande von La Cilof treffen sich nachmittags die Boulespieler*innen, hier dominieren die Biofranzosen deutlich. Ein beleibter Frühsechziger, der für die Gemeinde arbeitet und deswegen nicht namentlich genannt werden will, nimmt kein Blatt vor den Mund: »Die Politiker sind alle abgehoben und korrupt, Macron ist eine Katastrophe.« Deswegen hat er jetzt rechtsextrem gewählt, als Rentner will er in die Provinz ziehen. In seinem Heimatort stören ihn vor allem die Jugendlichen, die abends öfters mit schicken Autos durch die Siedlung brausen würden, »alles Araber, Schwarze, richtige Arbeit kennen die gar nicht«, glaubt er.
Die Fußgängerzone im benachbarten Juvisy-sur-Orge ist auch klar migrantisch geprägt. Samia Meziane, weißer Hijab-Schal, offener Blick und ein gewinnendes Lächeln, steht vor ihrem Kleidergeschäft. Sie klagt über steigende Strom-, Wasser- und Benzinpreise. Auch das Essen sei seit der Pandemie teuer geworden. »Bei einem Einkauf im Supermarkt sind 100 Euro im Handumdrehen weg.«
Dass sich die Sozialisten und die radikale Linke gerade tagelang öffentlich darüber streiten, wer nun die Regierung anführen soll. Das wiederum freut ihre Gegner*innen und frustriert viele Unterstützer*innen.
Über den Vormarsch der Rechtsextremen, für die bei den Parlamentswahlen jeweils über zehn Millionen Menschen votiert haben, ist sie entsetzt. »Die Migranten sind doch keine Hilfsarbeiter mehr wie am Anfang, sondern gut ausgebildete Profis«, sagt sie, »ohne die Ärzte, die aus Afrika stammen, könnte unser Krankenhaus dichtmachen.« Viele hätten den RN aus Frust über die anderen Parteien gewählt, »wir haben alle ausprobiert, die Linke, die Rechte, die Mitte, jetzt können wir’s ja mal mit denen probieren« – so laute die gängige Argumentation.
Ihr Foto will die Geschäftsfrau nicht gedruckt sehen, »aus Sicherheitsgründen«. Sie selbst hat algerische Wurzeln und ist vor 52 Jahren in Paris geboren, wohnt aber schon seit Jahrzehnten in Juvisy. Die Kleinstadt an der Seine habe sich sehr verändert, vor allem die Gegend um den Bahnhof sei ungemütlich. »Trotz aller Probleme: Marine Le Pen hat keine Chance«, ist Meziane mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2027 überzeugt. »Wir müssen uns doch entfalten und gut zusammenleben.«
Aus Juvisy stammt auch Claire Lejeune, 29, die strahlende Wahlsiegerin
des Linksbündnisses. Bekannt wurde die Politologin als Klimaaktivistin und Ko-Chefin der Öko-Jugend. Vor zwei Jahren stieß sie zur LFI und führte ihren ersten Wahlkampf, unterlag aber knapp. »Die Ökologie muss aus den sozialen Bewegungen wachsen«, hatte sie damals ihren Abschied von den Grünen begründet. »Sie muss fest in einer antikapitalistischen Linken verankert sein.«
»Durch Macrons Politik ist nicht nur die Lage der einfachen Leute prekärer geworden, sondern auch die der Mittelschicht«, sagt die frischgebackene Abgeordnete in einem Straßencafé, »der Staat zieht sich immer weiter zurück«. Ein Gemeinderat aus Viry-Châtillon, der zur Mitte-rechts-Mehrheit des Bürgermeisters gehört, kommt vorbei und gratuliert. »Der ständige Vorwurf, die Linke sei antisemitisch, ist Demagogie«, sagt er. Auch sonst sieht er Gemeinsamkeiten, etwa beim Ziel der »Wiederherstellung der Kaufkraft« durch deutliche Lohnerhöhungen.
Für ihren ersten Arbeitsauftritt vor Ort hat sich Claire Lejeune, die sich in der Fraktion für eine »volksnahe Ökologie« starkmachen will, den Platz vor dem kleinen Supermarkt von La Cilof ausgesucht und erzählt von den ersten aufregenden Tagen im Parlament, von respektvollem Personal und langen internen Sitzungen. Linke Lokalpolitiker*innen haben sich eingefunden, das Wahlvolk bleibt zurückhaltend. Eine Gruppe von Jugendlichen, denen die Abgeordnete versichert, sie stehe immer zu ihren Diensten, stürzt sich schnell auf den Stand mit Cola und Schnittchen.
»Wir können uns kämpferisch für unsere Basis einsetzen«, sagt Lejeune lächelnd im kleinen Kreis vor dem Supermarkt, »oder uns auf endlose Verhandlungen einlassen. Und da weiß ich, wo ich stehe.«
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