Exil in Carona
Ein Besuch bei Lisa Tetzner und Kurt Kläber
Ende März 1933 kam Brecht nach Lugano. Noch war der Platz, an dem er bleiben konnte, nicht gefunden. »Liebe Helli«, schrieb er an Helene Weigel, die mit den Kindern in Wien geblieben war, »in Zürich, in aller Frühe, lese ich in der Zeitung, daß Döblin nachmittags irgendwo Bücher signiert. Ich rufe ihn an. Da fragt aus dem Zimmer nebenan eine Stimme: ist das denn Brecht? Da ist es Kurt Kläber. Sie fahren nach Lugano vormittags, haben da ein Haus am See. Ich traf noch Döblin und die Seghers mit Mann. Wir beschlossen, für alle was am Luganer See zu suchen. Kläbers wollen es in die Hand nehmen.«
Tage danach ein weiterer Brief, diesmal mit einer Liste der Lebensmittelpreise. Die Rede war jetzt von Carona. Der Mietpreis für vier Zimmer 50 bis 100 Franken. Brecht, völlig in Anspruch genommen von der Suche nach einem billigen Quartier für die Familie, lief viel herum und meinte schließlich, dass es besser wäre, Helli käme mit den Kindern selber her, damit er ihr zeigen könnte, was er ausfindig machte. »Bei Kläbers in der Nähe in Carona ist Wohnen sehr schön und sehr billig, aber das ist nur dreimal täglich mit Autobus ziemlich teuer erreichbar, letzter abends sechs Uhr.«
Carona liegt hoch überm Luganer See. Wenn die Serpentinen bewältigt und die ersten Häuser erreicht sind, muss man nur noch durch ein enges, niedriges Tor, dann ist der Mittelpunkt des Orts, der sonnige Platz vor der Kirche, erreicht. Links das Tal mit dem See in der Tiefe und dahinter, im Dunst, die Gipfel der Tessiner Alpen. Zum Anwesen Kläbers geht es weiter die extrem enge Hauptstraße entlang und dann noch einmal bergauf. Oben eine Einfahrt, ein Plattenweg, die Wiese und hinten, am Ende des Grundstücks, braun herüber leuchtend, das Haus: Gerti Tetzners und Kurt Kläbers Domizil der letzten Jahre.
Damals, als Brecht einige Wochen in Carona weilte, war diese Stelle unbebaut. Das Paar wohnte in einem Haus unterhalb des Areals. 1924, kurz vor ihrer Heirat, haben sie hier zum ersten Mal Urlaubstage verbracht: sie, die Kinderbuchautorin und Märchenerzählerin aus Zittau, und er, der Journalist und Dichter mit der bewegten Vergangenheit. Kläber, am 4. November 1897 in Jena geboren, hat vorzeitig die höhere Schule verlassen und eine Schlosserlehre absolviert, er war bei den Wandervögeln und Telegrafist im Ersten Weltkrieg, danach fahrender Buchhändler in Thüringen, Bergmann im Ruhrgebiet, Leiter einer Arbeitervolkshochschule. Er ist in den USA gewesen, wo er eine Menge trüber Erfahrungen sammelte, hat als Journalist gearbeitet und 1919 einen expressionistischen Gedichtband (»Neue Saat«) veröffentlicht.
1925 dann »Barrikaden an der Ruhr«, ein Geschichtenband, der von den Kämpfen des Proletariats handelt und ein Klassiker der sozialistischen Literatur wurde. Die Zensur verschaffte ihm, kaum dass er ausgeliefert war, unerwartete Aufmerksamkeit: Sie verbot ihn. »Es kam mir darauf an«, schrieb Kläber Anfang Juli 1925 an Hermann Hesse, »einmal die Bergleute und die anderen Arbeiter dort in ihrer gemeinsamen Not und ihrem großen Elend zu zeigen. Natürlich lag es mir sehr fern aufzureizen oder zur Rebellion aufzurufen. Die Skizzen sind ja auch nur Bilder, wie sie in hundertfacher Variation täglich sichtbar wurden und heute noch sichtbar werden.« Hesse reagierte umgehend. Schon zwei Tage später verteidigte er das Buch und lobte die Sachlichkeit, Treue und Naturnähe der Geschichten, die kraftvolle Sprache des Autors sowie die strenge, einfache und klare Komposition. Gegen die Unterdrückung des Bandes protestierten, besorgt über die rigide Einschränkung der Meinungsfreiheit, auch andere: Gerhart Hauptmann, Käthe Kollwitz, Thomas Mann, Heinrich Mann, Alfred Kerr, Erich Mühsam, Johannes R. Becher, Heinrich Zille. Drei Jahre später wird Kläber, jetzt einer der prominenten linken Autoren, gemeinsam mit Becher die Proletarische Feuilleton-Korrespondenz ins Leben rufen, und natürlich war er auch dabei, als 1928 der Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller gegründet wurde.
Nach Carona kam Kläber mit seiner Frau jedes Jahr. Ein Foto zeigt Becher, Hans Lorbeer und weitere Besucher vorm Haus. Im Vordergrund Büsche und Blumen, Teile eines offenbar verwilderten Gartens, eine Treppe, zwei große Türen, bröckelnder Putz. Kläber arbeite »mit einer gewissen Tapferkeit«, schrieb Lorbeer 1928 an Becher. »Carona scheint ihm eher ein Arbeitszimmer, als ein Erholungsort zu sein; und er ist wirklich nicht zu gesund.« Kläber, unterdessen auch Mitglied der KPD, war ständig unterwegs, ein Mann in seinem Element, Volkserzieher und Literat, energiegeladen und begeisterungsfähig, er sprach in Betrieben und Ortsgruppen, ermunterte Arbeiter, sich im Schreiben zu versuchen. Beschäftigte sich in der Zeit, die ihm blieb, mit den eigenen Texten, veröffentlichte 1927 seinen ersten Roman (»Passagiere der III. Klasse«), aber dann versagte auch schon die Stimme. Zehn Jahre danach wird er erklären, wie sehr ihn die Doktrin lähmte, wie seine Prosa immer starrer, immer blutleerer wurde.
Dass er in Carona seinen Sommersitz hatte, erwies sich 1933 als Glücksfall. Zwar entging er in Berlin nicht der Verhaftung, aber Lisa Tetzner setzte alle Hebel in Bewegung, ihren Mann zu retten, schrieb Brief um Brief und schaffte es tatsächlich, dass man Kläber nach einigen Wochen freiließ. Carona wurde nun ständiger Wohnort, für Wochen auch das Zentrum der Schweizer Emigration. Kurt Kläber, noch voller Hoffnung, den politischen Kampf gegen Hitler organisieren zu können, von Becher immer wieder mit Aufträgen versehen, versuchte das Menschenmögliche, reiste nach Paris, erörterte mit Kisch und Anna Seghers die Lage, diskutierte mit Brecht, seinem Gast, der aber schließlich, eingeladen nach Dänemark, der teuren Schweiz den Rücken kehrte.
Kläber hat an Brecht oft denken müssen. Vor allem an dessen Äußerung, die Schweiz sei ein Land, das berühmt dafür ist, dass man dort frei sein kann: »Sie müssen aber Tourist sein.« Die Freunde und Kollegen zogen nach kurzem Aufenthalt weiter, er blieb. Lisa Tetzner durfte, weil sie in der Schweiz einige Zeit zur Schule gegangen ist, halbjährlich am Basler Lehrerseminar arbeiten, sie konnte auch weiterhin schreiben und publizieren. Ihm, Kurt Kläber, war jede Tätigkeit als Journalist oder Schriftsteller untersagt. Daran änderten auch die jahrelangen zermürbenden Auseinandersetzungen mit der Fremdenpolizei nichts. Hilfe kam 1936 ganz unverhofft. Die Frau eines deutschen Schauspielers, die in der Nähe gelebt hatte und jung starb, vermachte einigen Emigranten, auch Albert Ehrenstein und Arthur Koestler, eine beachtliche Summe. Kläber erwarb für seinen Anteil ein Stück Land oberhalb des Hauses, in dem er mit seiner Frau lebte. Und wurde nun Bauer. Pflanzte Mais und Gemüse, pflegte, erntete, legte sich einen Hühnerhof zu und sicherte damit das Überleben.
Auf dem einstigen Ackerland steht seit 1955 die Casa Pantrovà, das Haus des gefundenen Brotes, ein großzügiger Bau mit vielen Räumen und dem prachtvollen Bibliothekszimmer in der oberen Etage. Fenster, die bis zum Fußboden reichen, ein Teil der Decke mit Holz getäfelt, zwei sehr alte, gewaltige und schwere Tische, ein Flügel, niedrige Sessel, Bücherregale, an einer Wand ein Porträt des Hausherrn in Öl (das früher in einem anderen Raum hing). Hier hat Kläber, krank schon lange, die letzten Jahre seines Lebens verbracht und den Erfolg seiner Arbeit genossen. Inzwischen war er ein prominenter, sehr erfolgreicher Schriftsteller. Den Autor Kurt Kläber allerdings gab es nicht mehr. Sein Name war jetzt Kurt Held.
Er hat von der Literatur auch nach 1933 nicht gelassen. Anfangs dachte er an einen historischen Roman über das Pariser Exil. Drei Bände schwebten ihm vor. Aber sein Stückchen Land fraß alle Zeit. Hinzu kam, dass er immer stärker am Sinn seiner politischen Tätigkeit zweifelte. Schritt für Schritt, leise und ohne seinen Sinneswandel publik zu machen, zog er sich von der KPD zurück. Angeregt von Lisa Tetzner, versuchte er sich an einem Jugendbuch: »Die Schwarzen Brüder«. Es erschien, weil er es nicht publizieren durfte, unter ihrem Namen. Eine Reise nach Kroatien bescherte ihm die Begegnung mit einem rothaarigen Mädchen und einer Schar verwaister Kinder. In Carona wurde daraus 1940 ein Buch (dem bald weitere sozialkritische Jugendromane folgten), eine Robin-Hood-Geschichte: »Die rote Zora und ihre Bande«. Es erzählt vom Leben der Fischer und den Streichen der Kinder, die auf ihren Raubzügen die Reichen schröpfen, um den Bedürftigen zu helfen. In seiner Geschichte, erklärte Kläber 1953, habe er zeigen wollen, »daß fast immer nur der Arme für die Armen eintritt«. Das Buch, nach dem Krieg ein Klassiker der Jugendliteratur, in der Bundesrepublik viel gelesen, ist sein größter Erfolg, ein Bestseller, geworden.
1955, als die Casa Pantrovà fertig war, die er mit Lisa Tetzner selber entworfen hatte, zog Kurt Kläber ins neue Haus, stellte die Bücher in die Regale, setzte sich an den Flügel, empfing Gäste, schrieb, las, wehrte sich tapfer gegen die zunehmenden Herzanfälle. Er war ein glücklicher, aber müder und kranker Mann. Die umfangreiche Bibliothek verdeutlicht die Weite seiner Interessen. Auf den Buchrücken berühmte Namen: Goethe, Schiller, Büchner, Kleist, Brecht, Kafka, Heinrich und Thomas Mann, Anna Seghers, Dostojewski, Gorki, Joseph Conrad, Joyce und Proust. Dazu viel politische Literatur und die lange, leuchtende Reihe der Märchen, die Lisa Tetzner für den Verlag Eugen Diederichs in Jena gesammelt und nacherzählt hat. Die Weltliteratur war ihm, dem Bücherliebhaber, bestens vertraut. 1949 unternahm Kläber sogar den Versuch, wesentliche Texte für junge Leser zu edieren. Er rief für sie extra eine Reihe ins Leben, die »Drachenbücher«, bunt aufgemachte Groschenhefte, die Arbeiten von Balzac, Puschkin, Stevenson, Storm und Keller brachten. Aber zu seinem Kummer war das Interesse gering und der Absatz miserabel.
Johannes R. Becher hätte den Genossen von einst gern in Berlin gesehen. Kurt Kläber war neugierig, was dort geschah. Schon 1946 bat er um Bücher und Zeitschriften, und er hoffte auch, im Aufbau-Verlag publizieren zu können. Er konsultierte seinen Nachbarn Hesse im nahen Montagnola, weil er hörte, dass man dessen Bücher dort verlegt. Zu einer Publikation kam es aber nicht, und seit er 1948 mit dem Zug auch durch Deutschland gefahren war, eine »traurige Welt«, wie er fand, war er froh, in der Schweiz zu leben (deren Staatsbürgerschaft er inzwischen besaß). Becher hat ihm die Entscheidung verübelt. Franz Hammer schrieb ihm 1950: »Was Du über Kurt Kläber sagst, überrascht mich … Ich kenne Kläber nur aus der Zeit vor 1933, wo ich ihn überaus achtete. Daß er aus dem Exil nicht zurückkehrte, gefiel mir allerdings auch nicht …«
Brecht hat schon 1948 eine Einladung erhalten, ins Tessin zu kommen. Erich Weinert sei da, meldete Kläber, und Anna Seghers sei »im Anrollen«. Im Frühjahr 1956, als er eins seiner Bücher nach Berlin schickte, wurde die Einladung erneuert. Aber Brecht lag in der Charité, und Kläber musste sich mit dem Bekenntnis begnügen: »Ich denke gern an Carona und die gemeinsame Zeitungslektüre im Grünen.« Und dann war alles zu spät. Im August starb Brecht. Gute drei Jahre später, am 9. Dezember 1959, war auch Kurt Kläber tot. Lisa Tetzner, untröstlich, verfasste noch ein Lebensbild (»Das war Kurt Held. Vierzig Jahre Leben mit ihm«), das 1961 erschien, dann, im Juli 1963, starb auch sie. Beide sind auf ihrem Grundstück, gleich unterhalb der Casa Pantrovà, begraben worden.
Heute ist alles noch wie einst. Das Haus, das immer offen stand für Gefährten, Freunde und Kollegen, ist, wie die Besitzer es testamentarisch verfügten, eine Stätte der Begegnung geblieben. Verwaltet von der Stiftung Pro Helvetia, können Autoren und Komponisten hier ungestört arbeiten. Oben, vor dem Bibliothekszimmer, steht nun ein gut gefülltes Regal, das es damals noch nicht gab. Es enthält die Bücher der Gäste, die das fantastische Haus eine Weile bewohnten.
»Die rote Zora und ihre Bande«, Kurt Helds wohl berühmtestes Werk, ist ebenso wie »Giuseppe und Maria« vom Verlag Sauerländer lieferbar. Dort sind auch »Die schwarzen Brüder« und »Die Kinder aus Nr. 67« von Gerti Tetzner erschienen.
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