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Linke Strausberg: Freunde der russischen Sprache und des Friedens
Das diesjährige Strausberger Friedensfest steht im Zeichen der Brandenburger Landtagswahl
»Der Krieg, er ist nicht tot. Er schläft nur. Er liegt unterm Apfelbaum und wartet auf dich!« Dieses Friedenslied von Rio Reiser singt Kerstin Kaiser am Samstag beim Strausberger Friedensfest. Der Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi (Linke) sitzt im Publikum und gesteht, dass er nicht wusste, dass Kaiser so gut singen könne. Er kennt sie als Politikerin. Sie war Linksfraktionschefin in Brandenburg, zog dann zwischenzeitig nach Moskau, um dort das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu leiten.
Seit 2022 ist Kerstin Kaiser zurück in Strausberg und seit Juni 2024 zurück in der Politik. Denn sie wurde bei der Kommunalwahl in die Strausberger Stadtverordnetenversammlung und in den Kreistag Märkisch-Oderland gewählt. Am 22. September könnte sie noch einmal in den Landtag einziehen, wenn sie ihren Wahlkreis ein fünftes Mal gewinnt. Sie hat eine Chance, wenn sie als Direktkandidatin auch viele Erststimmen von Wählern erhält, die ihre Zweitstimme wegen der AfD taktisch lieber der SPD geben oder dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW).
Das BSW hat nur eine Landesliste aufgestellt und keine Direktkandidaten in den 44 Landtagswahlkreisen, kann also nur Zweitstimmen bekommen. Mitglieder und Unterstützer des BSW geben gegenüber »nd« an, Kerstin Kaiser bei der Stimmabgabe durchaus in Betracht zu ziehen. Die Linke-Kandidatin hofft außerdem, enttäuschte Nichtwähler zu mobilisieren. Auf ihren Wahlplakaten steht das Versprechen: »Bewährt unbequem gegen Krieg!«
Fünf-Prozent-Hürde: Sachsen als Vorbild
Kaisers Wahlkreis erstreckt sich östlich von Berlin über Strausberg, Petershagen-Eggersdorf und Rüdersdorf. Die Möglichkeit, dass sie ihn gewinnt und damit für die Linke die Fünf-Prozent-Hürde ausschaltet, hat der Landesverband nicht gleich erkannt. Auf Bundesebene ist man nach der Landtagswahl in Sachsen auf die Chance aufmerksam geworden: In Sachsen ermöglichten am 1. September zwei Direktmandate in Leipzig den Einzug der Linken in den Landtag, obwohl die Partei landesweit um 0,5 Prozentpunkte an der Fünf-Prozent-Hürde vorbeigeschrammt war. In Brandenburg würde nach den hier geltenden Regularien schon ein Direktmandat ausreichen.
Bei der Landtagswahl 2019, als Kaiser noch in Moskau war, konnte ihre Partei keinen einzigen Wahlkreis gewinnen – auch den in Strausberg nicht. Die Stadt war mal eine linke Hochburg. Aber das ist lange her. Insofern ist die Situation mit der in Leipzig nicht vergleichbar. Dennoch ist Strausberg ein Strohhalm, an den sich die Genossen klammern können, nachdem das Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap Brandenburgs Linke nur noch bei vier Prozent sieht.
»Jetzt gibt es so Umfragen: Mal vier, mal fünf Prozent. Dass wir um jede Stimme kämpfen müssen, das wussten wir.«
Sebastian Walter Linke-Spitzenkandiat
Weil die Bundespartei erkannt habe, was möglich sei, könnten in den nächsten zwei Wochen von überall her Genossen herbeieilen, um im Wahlkampf zu helfen, sagt der Kreisvorsitzende Ronny Kühn am Samstag. Beim Friedensfest dreht sich angesichts der Lage mehr oder weniger alles um Kerstin Kaiser. Es ist ihr Tag. Sie muss immer wieder auf die Bühne. Sie spricht dort mit Gregor Gysi, der sie freundschaftlich mit ihrem Spitznamen »Stine« anredet und für die Kandidatin wirbt.
Auftritte von »Trio Scho« und Gregor Gysi
Wie so oft eilt der Bundestagsabgeordnete von Termin zu Termin und hat nur ein begrenztes Zeitfenster für seinen Auftritt in Strausberg. So verständigt sich Kerstin Kaiser mit Gennadij Desatnik vom »Trio Scho«, erst noch drei Lieder gemeinsam zu spielen und dann das Konzert für Gregor Gysi zu unterbrechen. Das Trio ist seit 1994 in Berlin zu Hause, wurde aber 1991 im ukrainischen Poltawa gegründet. Es hat ukrainische, russische und jiddische Lieder im Repertoire. Gennadij Desatnik, Valeriy Khoryshman und Alexander Franz besingen Poltawa, die Stadt am Fluss Worskla, und Odessa, die Stadt am Schwarzen Meer.
Als Gregor Gysi vorn auf die Bühne kommt und die drei Musiker hinten von der Bühne steigen, werden sie von zwei Frauen auf Russisch angesprochen. »Wir sind aus der Ukraine«, sagt die eine. Gerührt berichtet sie, wie sie beim Spaziergang durch die Stadt die alten Lieder aus der Heimat hörten und es beinahe nicht glauben konnten, so schön sei das gewesen. Die Festbesucher bekommen das nicht mit. Aber es ist der rührendste Moment des Tages, der die Sehnsucht nach Frieden und Frohsinn offenbart und ein kleiner Hoffnungsschimmer ist inmitten des Krieges, der zwischen Russland und der Ukraine tobt.
Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.
Mit »daragije drusja« (»Liebe Freunde«) hat Gennadij Desatnik das Publikum auf Russisch begrüßt – und das versteht jeder, der in der DDR zur Schule gegangen ist und diese Sprache spätestens ab der 5. Klasse gelernt hat. »Die Freunde«, das war in der DDR eine offizielle Bezeichnung für die hier stationierten sowjetischen Soldaten und ihre Familien. Private Kontakte waren begrenzt. Dennoch hat es auch echte Freundschaft gegeben.
Sebastian Walter spricht Mut zu
Sebastian Walter, Linksfraktionschef im Landtag und Linke-Spitzenkandidat, ist erst im April 1990 auf die Welt gekommen, als die Tage der DDR bereits gezählt waren. Trotzdem hat er, für seine Generation ungewöhnlich, in der Schule Russisch gelernt. Man brauche keine Uniformen für junge Männer, sondern ein kostenloses Mittagessen für Grundschüler, sagt Walter in Strausberg. Man brauche nicht mehr Waffen, sondern einen starken Sozialstaat. In der Friedensfrage hat Walter genauso wie Kerstin Kaiser am eigenen Kurs festgehalten.
Es werde jetzt gesagt, die Linke kämpfe um ihr Überleben, weiß Oppositionspolitiker Walter. »Aber immer, wenn gesagt wurde, die Linke stirbt, wurden wir so lebendig wie nie zuvor«, sagt er. »Jetzt gibt es so Umfragen: Mal vier, mal fünf Prozent«, ergänzt Walter. »Dass wir um jede Stimme kämpfen müssen, das wussten wir.« Wer jetzt taktisch die SPD wählen wolle, damit diese noch die AfD abfange, dem sagt Walter, mit Ministerpräsident Woidke würden die Probleme im Bundesland weiterhin nicht gelöst werden.
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»Geben Sie uns noch eine Chance«, bittet Sebastian Walter seine Zuhörer: »Geben Sie uns auf jeden Fall Ihre Zweitstimme. Und wenn sie in Strausberg und Umgebung wohnen, geben Sie Kerstin Kaiser die Erststimme.« Walter ist bewusst: Der Sieg in einem Wahlkreis könnte die Rettung sein, wenn die Partei nur 4,99 Prozent der Zweitstimmen erhalten sollte. Auch wenn der Linksfraktionschef schmunzelnd behauptet, er sei natürlich sicher, dass es mindestens 8,99 Prozent werden.
Erfolgreicher Tag für den Kleinen Buchladen
Das allerdings bleibt unwahrscheinlich. Genauso unwahrscheinlich wie die von Ministerpräsident Woidke im Brustton der Überzeugung vorgetragene Meinung, seine SPD könne die AfD noch einfangen. Von 20 auf 23 Prozent hat sich Brandenburgs SPD in den Umfragen zuletzt verbessert, damit aber nur die von 19 auf 18 Prozent abgerutschte CDU abgehängt. Die AfD stieg nach dem Amoklauf eines syrischen Flüchtlings in Solingen von 24 auf 27 Prozent und konnte damit ihren bisherigen Vorsprung wahren.
Beim Friedensfest am Samstag dürfen via Mikrofon auch die für sich werben, die hier einen Stand aufgebaut haben. So etwa die Arbeitsgemeinschaft »Cuba si« und der Jugendklub »Horte«, dessen Küche für alle das billigste Mittagessen in Strausberg anbietet. »Wir sind alle sehr coole Leute, da fühlt man sich wohl«, ermuntert einer der Mitstreiter des linken Klubs, doch einmal vorbeizuschauen.
Über mehr Kundschaft im Kleinen Buchladen im Karl-Liebknecht-Haus in Berlin würden sich indes der ehemalige Inhaber Göran Schöfer und sein Nachfolger Wanja Nitzsche freuen. Der Laden, der seit 33 Jahren linke Literatur verkauft, kämpft genauso um sein Überleben wie die Linkspartei und die sozialistische Tageszeitung »nd«. Die gedruckte nd-Tagesausgabe ist einzig noch im Kleinen Buchladen erhältlich, wie Schöfer sagt. Sonst gibt es sie nur noch für Abonnenten und an den Kiosken lediglich die Wochenendausgabe. Insgesamt macht der Kleine Buchladen am Samstag Umsatz wie lange nicht mehr. Es ist ein Tag, der viele Hoffnungen weckt.
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