Werbung

Naomi Klein: »Es ist unerträglich«

In »Doppelgänger« untersucht Naomi Klein unsere gestörte Gegenwart

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 4 Min.
Die kanadische Autorin und Klimaaktivistin Naomi Klein vor der Sydney Harbour Bridge
Die kanadische Autorin und Klimaaktivistin Naomi Klein vor der Sydney Harbour Bridge

Es ist rund 25 Jahre her, seit die kanadische Autorin und Umweltaktivistin Naomi Klein, Jahrgang 1970, einen internationalen Bestseller veröffentliche. In »No Logo!« (von 2000) beleuchtete sie die Arbeitsbedingungen in Textilfabriken Südostasiens. 20 Jahre später folgte eine Sammlung von Essays dem Titel: »Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann«. Darin forderte sie einen radikalen Systemwandel. Nun hat die 54-jährige Publizistin, mittlerweile Professorin für Klimagerechtigkeit, ein weiteres anspruchsvolles Buch folgen lassen: »Doppelgänger. Eine Analyse unserer gestörten Gegenwart«. Darin analysiert sie die verstörenden Folgen der Corona-Pandemie, in der Karrieren von Verschwörungstheoretikern so richtig in Fahrt kamen.

Man benötigt für das hier anzuzeigende Buch einen langen Atem. Denn Naomi Klein unternimmt eine tiefgreifende Analyse der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in der Welt. Ausführlich widmet sie sich zunächst einer einst feministischen Schwester im Geiste: Naomi Wolf. Drei von Wolfs Büchern sind auch in Deutschland, im Rowohlt Verlag, veröffentlicht worden. Zur Zeit der Pandemie jedoch radikalisierte sich Wolf, rutschte immer tiefer ins Lager der Verschwörungstheoretiker, landete schließlich in Trumps Propagandasender Fox News und wurde zum Liebling von Steve Bannon, dem Chef-Strategen der Politikverdreher. Naomi Wolf verkörperte fortan alles, wogegen Naomi Klein gekämpft hat und nach wie vor kämpft. Das Bedrückendste für die engagierte Klimaaktivistin jedoch war, in den oberflächlichen digitalen Medien immer öfter mit ihrer »Doppelgängerin« verwechselt zu werden.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Aus der Spiegelung mit ihrem digitalen Phantom-Ich entwickelt Naomi Klein ihre tiefschürfende Analyse und weist auf blinde Flecken und beschränkten Blickwinkel in Geschichte und unserer »gestörten Gegenwart«. Daraus resultiert unter anderem die Verdrängung der Tatsache, dass wir unsere Lebensweise in westlicher Welt auf Kosten anderer leisten. »Wir wollen nicht, dass unsere Körper etwas mit dem massenhaften Artensterben zu tun haben«, hält Naomi Klein uns den Spiegel vor. »Wir wollen nicht, dass die Kleidungsstücke, in die wir unsere Körper hüllen, von anderen Körpern hergestellt werden, die erniedrigt, missbraucht und bis zur Erschöpfung ausgebeutet werden. Wir wollen keine Lebensmittel essen, die mit Erinnerungen an menschliches und nicht menschliches Leid belastet sind. Wir wollen nicht auf gestohlenem, von den Geistern der Vergangenheit heimgesuchtem Land leben. (…) Es ist unerträglich.«

Schattengestalten, Doppel-Ichs, Selbstverleugnung, Fake News allerorten. Es finde eine »Neuordnung der Politik« statt, schreibt Naomi Klein und sieht darin eine der nachhaltigsten Hinterlassenschaften von Covid. »Schattenzonen« seien entstanden. In diesen gedeihe Missbrauch, der »mit Hilfe einer Verschwörung vertuscht werden« müsse, schreibt Klein, »um nicht nur die Täter zu schützen, sondern auch uns als Konsumenten, die wir uns unsererseits miteinander verschwören, um unwissend und unschuldig durch die besser beleuchteten Bereiche der Versorgungskette schlendern zu können«. Womöglich seien »die weichen Leugner«, also: »der Rest von uns«, die größten Verhinderer. Sie wollen nicht erkennen, um nicht tätig werden zu müssen: »Wir wissen, dass der Klimawandel real ist, tun aber so, als wäre er es nicht, und vergessen ihn beharrlich, auf jede erdenkliche Art und Weise, im Großen wie im Kleinen.«

Als säkulare Jüdin nimmt Naomi Klein schließlich die Kriege im Nahen Osten in den Blick. Der Dauerkonflikt zwischen Israel und Palästina lasse sich nicht »als verwirrender ethischer Konflikt zwischen zwei unversöhnlichen semitischen Zwillingen abtun«, schreibt sie. Vielmehr sei es »das bisher letzte Kapitel (…) einer Welt, die in Flammen steht«. Und Naomi Klein schlägt sodann einen großen Bogen durch die unheilvolle Geschichte der Menschheit. »In diese Geschichte sind wir alle verstrickt, wo auch immer wir leben. Sie begann im Vorfeld der Inquisition mit Folterungen, Verbrennungen und der Vertreibung von Muslimen und Juden; setzte sich mit der blutigen Eroberung des amerikanischen Kontinents und der Plünderung Afrikas fort, wo man sich Reichtümer aneignen und menschlichen Treibstoff für die neuen Kolonien beschaffen konnte; verwüstete Asien im Zuge der Kolonialisierung und kehrte dann nach Europa zurück, wo Hitler die in den vorausgehenden Geschichtskapiteln entwickelten Methoden – wissenschaftlicher Rassismus, Konzentrationslager, Völkermord in den neuen Siedlungsgebieten – zu seiner Endlösung destillierte.«

Naomi Klein hat in Form einer Selbstbefragung ein Buch verfasst, das jeden Leser und jede Leserin zum Innehalten und Reflektieren der eigenen Ansichten und Handlungen anregen mag. Es beinhaltet eine scharfe Kritik der Auswüchse der (a)sozialen Medien und deren Tendenzen, verhängnisvolle Abhängigkeit zu schaffen. Eine digitale Droge permanenter Ablenkung von den ernsthaften und wahren Fragen des Lebens. Gehirnwäsche halt.

»Eine Analyse unserer gestörten Gegenwart« ist radikal antikapitalistisch und leidenschaftlich, wie man es von Naomi Klein gewohnt ist.

Naomi Klein: Doppelgänger. Eine Analyse unserer gestörten Gegenwart. A. d. Engl. v. Peter Robert u. Rita Seuß. S. Fischer, 496 S., geb., 29 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!