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Zeitschrift »Drecksack«: Gesagt und gefühlt

Der neue »Drecksack« kümmert sich um Musik, hauptsächlich aus dem Ost-Untergrund

  • André Dahlmeyer
  • Lesedauer: 4 Min.
»So ist die DDR nicht, wie Sie sie beschreiben« – das hörte Herausgeber Florian Günther nach 1989 nicht mehr.
»So ist die DDR nicht, wie Sie sie beschreiben« – das hörte Herausgeber Florian Günther nach 1989 nicht mehr.

Seit November 2010 erscheint in Berlin-Friedrichshain, aller Gentrifizierung zum Trotz, alle drei Monate im Zeitungsformat der »Drecksack«, der sich im Untertitel »Lesbare Zeitschrift für Literatur« nennt. Das alleine ist bereits eine herausgeberische Meisterleistung; Literaturzeitschriften sterben seit Menschengedenken schneller als Barfliegen. Wie Herausgeber Florian Günther das stemmt, bleibt sein Geheimnis. Mittlerweile ist die 58. Ausgabe des »Drecksacks« erhältlich. Es ist die bereits vierte Sondernummer oder Themenausgabe, diesmal geht es um Musik. Die vorherigen beschäftigten sich mit den legendären Dichtern und Schriftstellern Jörg Fauser und Charles Bukowski sowie mit dem Gefängnis.

Mit angestoßen haben soll den »Drecksack« kein Geringerer als der Godfather des verkopften Prenzelbergosaurus, der 2023 verstorbene Sir Bert Papenfuß. Doch er und Günther konnten sich weder auf einen Titel noch auf Inhalte einigen, und so gab es eine Doppelausgabe mit Wende-Cover: Vorne hieß die Zeitschrift »Drecksack«, hinten hübsch arbeiterfreundlich »Konnektör« (oder umgekehrt). »Einer nannte es mal Gossenzeug, was wir da drucken«, wurde Günther zitiert. Ja, hervorragend! Als ich früher einmal vom Deutschlandfunk zum Erscheinen eines Erzählungsbandes von mir befragt wurde, antwortete ich, es handele sich dabei um »Gossenphilosophie«. Ja, ich habe es gesagt und gefühlt. Denn es ist ja nicht nur bei subkulturellen Bewegungen kriegsentscheidend, dass man seine Geschichte selbst aufschreibt und definiert.

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Gleichwohl ist Günthers Zeitschrift in exquisiter Qualität gedruckt und zusammengelegt, nicht geheftet – und mitten im Leben. Das ist nicht exakt die Fernsehwelt der anderen, die von Ängsten zerfressen, alles »fremd« und »undeutsch« finden. Derlei Vorurteile entstehen meist durch ein überstrapaziertes, masochistisch frei gewähltes Maß an Sitzfleisch. Kann der neue »Drecksack« derart tief sitzende mentale und selbst zugefügte Wunden verarzten?

Mit Musik soll ja alles besser gehen. Und Musik, das wird in dieser Ausgabe klar, sind ebenso Geräusche, auch Stille. Der längste Text ist gleich der erste, er stammt von Christian »Flake« Lorenz, Keyboarder von Rammstein und heißt »Meine bessere Hälfte«. Die Absätze beginnen mit Wörtern wie »meine«, »keine«, »jedenfalls«, »mich« und »aber«, und dann gibt es seitenlang keine Absätze mehr.

Dieser Text ist unterhaltsam, gegen Ende wird er etwas zu technisch. Dass der Autor das merkt und eingesteht, ist ein Kunstgriff, macht das Lesen jedoch nicht leichter. Er betrachtet das merkwürdige Verhältnis von Musikern zu ihren Instrumenten. Fußballer küssen ja auch Pokale und knabbern an Medaillen: »Musiker sind manchmal keine einfachen Menschen. Vielleicht waren sie das auch schon vorher und sind deshalb Musiker geworden. Das ist wie mit dem Ei und der Henne«, mutmaßt Lorenz. Seine Band ist mit ihrem ohrenbetäubend pompösen Bauerntheater, das Opern und Operetten parodiert und mit der deutschen Romantik wie auch mit blutrünstigen Märchen jongliert, weiterhin erfolgreich. Ihren Fans scheinen die Vorwürfe, die 2023 gegen ihren Sänger Till Lindemann durch die Presse gingen, egal zu sein.

Im neuen »Drecksack« versammeln sich weitere ostdeutsche Musiker wie Max Baum (Tausend Tonnen Obst), Alexander Krohn (Britannia Theatre) und Olaf Tost (Die Anderen). »So ist die DDR nicht, wie Sie sie beschreiben«, das hörte Günther nach 1989 nicht mehr. Passend dazu finden sich hier wertvolle Beiträge der DDR-Undergroundmusik-Koryphäen Ronald Galenza und Henryk Gericke. Ebenso ins Heft geschafft haben es Key Pankonin (Ichfunktion) und auch ein Text über Kiev Stingl. Beide traten vor 30 Jahren bei den bundesweiten »Social-Beat-Festivals« in Ostberlin auf, die ich mitveranstaltete.

Der Auftritt von Stingl im Schokoladen war der beste seines Lebens. Auf dem Pfefferberg-Gelände, wo tagelang eine Underground-Buchmesse, voll mit Giftmüll, stattfand, geriet Stingl mit dem braunschweigischen Heimatdichter Sir Jan Off aneinander. Stingl, der mit einem Joint so voluminös wie ein Ofenrohr über dem Gelände schwebte, hatte Offs Freundin unzüchtig angebaggert und bekam Schläge angedroht. Monate später sagte Stingl im hessischen Fernsehen: »Social Beat ist, wie wenn man zu einer Frau geht, die man nicht begehrt.«

In den »Drecksack« hat es nur ein winziges Gedicht einer Frau geschafft. Da ist Erklärungsbedarf. Frauen waren in der Musikgeschichte immer wegweisend. Schwerpunkt des Hefts sind klar die DDR und (Ost-)Berlin. Frauen gab es dort eher im Pop und im Schlager. Im Ost-Underground hatten es Frauen viel schwerer als im West-Underground.

Der Westen selbst kommt im aktuellen »Drecksack« nur am Rande vor. Stingl ist dabei, ein Pfälzer Surfpoet (bester Text im Heft), und löblicherweise kommt die Krautrock-Legende Guru Guru zu Ehren. Interessant ist auch, was es nicht gibt: Das wichtigste illegale DDR-Festival in Steinbrücken (Nordhausen/Thüringen) wird mit keinem Wort erwähnt.

»Drecksack«, Sonderausgabe Musik, 5 Euro, erhältlich im Buchhandel (ISSN 2195-4410) oder unter: https://www.edition-luekk-noesens.de

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