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- Ekrem İmamoğlu
Riskante Bündnisse in der Türkei
Svenja Huck kommentiert die Proteste in der Türkei für die Freilassung des Istanbuler Bürgermeisters
Seit einer Woche finden allabendlich vor dem Istanbuler Rathaus Kundgebungen statt. Das Ziel der Demonstranten: die Freilassung des Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu von der größten Oppositionspartei CHP. Die Redner dort sind eine bunte Mischung – zu bunt, möchte man meinen. Es sprechen nämlich nicht nur Vertreter der CHP, sondern auch Menschen aus anderen nationalistischen Parteien. Zum Beispiel der Vorsitzende der Memleket Partisi, Muharrem İnce.
İnce trat 2020 aus der CHP aus und gründete seine eigene Partei, nachdem er 2018 noch als deren Präsidentschaftskandidat antrat, aber die Wahl gegen Recep Tayyip Erdoğan verlor. Dennoch hielt er am Samstagabend eine Rede in Solidarität mit İmamoğlu und forderte die türkische Polizei dazu auf, nicht die Protestierenden anzugreifen. »Wenn ihr euer Pfefferspray und eure Schlagstöcke unbedingt einsetzen wollt, dann tut das doch bei den illegalen Migranten, die massenhaft in unser Land kommen«, rief er in Richtung der Polizei. Vor dem Hintergrund, dass es in der Türkei immer wieder Pogrome gegen Migrant*innen gibt, bei denen Menschen bereits gestorben sind, ist diese Hetzte brandgefährlich.
Svenja Huck promoviert an der FU Berlin zu türkischer Zeitgeschichte und schreibt als freie Journalistin über die Türkei.
Sie schien auf der Kundgebung aber kaum jemanden zu stören. Die Ablehnung von Migrant*innen aus Syrien oder Afghanistan ist in der Türkei ein parteiübergreifendes Thema, das vor allem die Opposition im letzten Wahlkampf für sich einnahm. Auch der ebenfalls inhaftierte Parteivorsitzende der Zafer Partisi, Ümit Özdağ, konnte eine Grußbotschaft zu den Protesten senden, die dort verlesen wurde. Die Zafer Partisi ist vor allem für ihre ausländerfeindliche Politik bekannt. Selbstorganisierte Schlägerbanden, die Migrant*innen angreifen, beziehen sich positiv auf Özdağ und seine Partei.
Vertreter*innen der prokurdischen DEM-Partei (vormals HDP) haben bisher hingegen keine Redezeit bekommen. Ihre demokratisch gewählten Bürgermeister*innen und Parlamentsabgeordneten werden ebenfalls seit Jahren aus ihren Ämtern entfernt. Dagegen gibt es immer wieder Proteste in den hauptsächlich kurdisch geprägten Provinzen im Südosten der Türkei. Auch diesen Bürgermeister*innen wird – ähnlich wie İmamoğlu – Terrorismus vorgeworfen.
Aus Sicht der CHP ist ein Schulterschluss mit der DEM-Partei jedoch riskant, denn mit eben jener Zusammenarbeit bei der letzten Kommunalwahl begründet die türkische Staatsanwaltschaft die Terrorvorwürfe gegen İmamoğlu. Die Spaltung der Opposition ist Teil der Strategie der AKP, um ihre Macht zu erhalten, was auch wegen der wirtschaftlichen Krise im Land immer schwieriger ist.
Will die von der CHP geführte Opposition den politischen Wettstreit für sich gewinnen, wird sie jedoch auf die Kurd*innen zugehen müssen. Ein nicht ganz einfaches Unterfangen. Der Grund: 2016 halfen 20 CHP-Abgeordnete der regierenden AKP in einer Parlamentsabstimmung, die Immunität zahlreicher HDP-Abgeordneter aufzuheben, die anschließend eingesperrt wurden. Unter ihnen die ehemaligen Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die daraufhin zu 30 bzw. 40 Jahren Haft verurteilt wurden.
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