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Das Ende der alten BRD: Kein Grund zur Trauer
Yossi Bartal trägt die alte BRD zu Grabe und will für eine andere Erzählung, ein anderes Deutschland kämpfen
Konferenzen in der Schweiz können weltbedeutend sein – mit dieser Vorstellung bin ich aufgewachsen. Schon in der Grundschule hing bei uns ein Bild eines bärtigen Mannes auf einem Balkon, daneben der Satz: »In Basel habe ich den Judenstaat gegründet.« Eine kleine Infobox erklärte dazu, der Visionär heiße Theodor Herzl, und verwies auf den Zionistischen Weltkongress, der 1897 einen Plan zur Gründung einer Heimstätte in Palästina vorlegte – »für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen«.
Letzte Woche war auch ich in der Alpenrepublik zu einer teils geschlossenen, teils öffentlichen Konferenz, die sich mit dem allmählichen Verschwinden rechtsstaatlicher Standards und universalistischer Legitimationsdiskurse im heutigen Deutschland befasste, und zwar unter dem leicht provokanten Titel »Der große Kanton – Aufstieg und Fall der BRD«. Angesichts des darauf folgenden Aufruhrs im deutschen Feuilleton über das Zusammentreffen mehrerer schwer assimilierbarer Intellektueller könnte ich mir fast anmaßen zu sagen: »In Zürich haben wir die Bundesrepublik Deutschland zu Grabe getragen.«
Yossi Bartal ist seit 2006 ein begeisterter Wahl-Neuköllner. Aufgewachsen in West-Jerusalem lernte er früh, dass Selbsthass die edelste Form des Hasses ist. Mit einer gesunden Dosis Skepsis gegenüber Staat und Gesetz schreibt er für nd.Digital jeden dritten Montag im Monat über Parallelgesellschaften, (Ersatz-) Nationalismus und den Kampf für eine bessere Welt.
Über Deutschland in den Kategorien des Untergangs zu sprechen – über ein Land, in dem viele der Konferenz-Teilnehmenden geboren wurden oder das sie später zu ihrer Wahlheimat machten – war keine erfreuliche Angelegenheit. Bisweilen lag eine Spur Nostalgie in den Beiträgen, mitunter auch ein Anflug von enttäuschter Liebe. Weder ein konservatives Untergangsnarrativ noch »Deutschland muss sterben«-Gesänge gaben den Ton in dieser Trauerzeremonie an. Und dennoch war die Todesfeststellung des bundesrepublikanischen Gebildes ein wiederkehrendes Motiv, denn, wie Mitorganisatorin Emily Dische-Becker in ihrer Eröffnungsrede verstehen ließ: Eine Autopsie kann Leben retten, wenn auch nicht mehr das des Leichnams.
Dass zum Tode Erklärte noch Jahrzehnte eine Zombie-Existenz führen können, beweist derzeit der Neoliberalismus: Seit der Finanzkrise tobte er weitere 15 Jahre, ohne dass noch jemand wirklich an ihn glaubte. Ähnliches ließe sich über das deutsche »Wiedergutwerdungs«-Narrativ der vergangenen 40 Jahre sagen, das uns dialektischerweise unter einem zum Teil progressiven Gewand letztlich die monarchistisch verhauchte Staatsräson und die Abkehr von menschenrechtlichen und freiheitlichen Grundprinzipien brachte. Argumente gibt es kaum noch – geblieben sind unverständlich gewordene Plattitüden und nackte Repression. Das bestätigt auch der jüngste Bericht der Bürgerrechtsorganisation Civicus, der Deutschland in seinem globalen Ranking zu bürgerlichen Freiheiten erneut herabgestuft hat – vor allem wegen des Umgangs mit Kritik an der genozidalen Kriegsführung Israels und der Unterstützung Deutschlands dafür.
Nicht nur das Nachkriegsdeutschland befindet sich im Niedergang, sondern die westliche Hegemonie insgesamt.
Dass die Konferenz in der Schweiz stattfand, war angesichts dieser Zustände keine Opferpose, sondern ein realistischer Schutz. In Deutschland wäre eine Zusammenkunft jüdischer, palästinensischer und internationaler Wissenschaftler und Autoren in staatlich finanzierten Räumen ohne aggressive und wohl erfolgreiche Zensurversuche kaum vorstellbar. Und das ist in der Tat zu betrauern.
Aber für Trauer bleibt wenig Zeit – und auch nicht allzu viele Gründe. Eine Verklärung der Bundesrepublik als einstige Bastion von Freiheit und Aufklärung lag den im Zürcher Exil versammelten Rednern ohnehin fern. Viel bedeutender erschien die Tatsache, dass nicht nur das Nachkriegsdeutschland sich im Niedergang befindet, sondern die westliche Hegemonie insgesamt. Und betroffen ist nicht nur ihr liberales, dabei zutiefst heuchlerisches und blindes Selbstbild, sondern auch ihre materielle Vorherrschaft. In dieser Lage gilt es, für eine andere Erzählung und ein anderes Deutschland zu kämpfen. Heinrich Heine, der den Tod Deutschlands in seinem Weberlied so wunderbar verwünschte, rief seinen deutschen Lesern Jahre danach im »Wintermärchen« zu: »Ein neues Lied, ein besseres Lied, o Freunde, will ich euch dichten!« Der israelisch-britische Architekt und Forensiker Eyal Weizman sagte in Zürich im Kern das Gleiche: Gefordert ist kein Requiem, sondern ein Kampflied für die kommende Zeit.
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