- Kommentare
- Libyen
Libyens Demokraten allein gelassen
Milizenchefs versuchen, die Macht im Lande unter sich aufzuteilen
In seiner ersten Rede nach dem Ende der schweren Straßenkämpfe gab sich Premier Abdelhamid Dbaiba ebenso empört wie viele seiner Landsleute, die auf dem Märtyrerplatz im Zentrum der libyschen Hauptstadt Tripolis demonstrierten. Er wolle ein Land ohne Milizen und ohne Korruption, so der Geschäftsmann und Millionär. Man sei auf einem guten Weg, die Macht der Milizenkommandeure zu beenden. Als Beispiel nannte er den am vergangenen Montag getöteten Anführer des »Stabilisierungs- und Unterstützungsapparates«, der bis dahin stärksten Gruppierung in der Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt. Mit dem Mord an Abdel Ghani Al-Kikli und dem anschließenden Angriff auf die zweitstärkste Miliz hat die Dbaiba-Allianz die schlimmste politische Krise seit dem Krieg von 2019 ausgelöst.
Der 2021 eigentlich nur für ein Jahr gewählte Dbaiba hatte darauf spekuliert, dass die Bevölkerung ihm für das Vorgehen gegen das Milizenkartell danken würde. Doch während des mittlerweile zu einer Zeltstadt angewachsenen Protests auf dem Märtyrerplatz wird nun nicht nur zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung aufgerufen, sondern auch der Rücktritt der Regierung, des in Ostlibyen tagenden Parlaments und des ominösen Präsidialrats gefordert.
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Unheilige Allianz mit den Milizen
Das Parlament war 2014 für vier Jahre gewählt worden, musste sich aber wegen der immer wieder aufflammenden Gewalt wie auch Dbaiba keiner Neuwahl stellen. Da weder die Regierung noch das Parlament über eine Armee verfügen, sind sie eine unheilige Allianz mit den Bewaffneten eingegangen, die allesamt auch auf den Lohnlisten des Staates stehen. Während des Krieges um Tripolis vor sechs Jahren wurde somit der Sold der Kämpfer beiderseits der Frontlinie von derselben Zentralbank bezahlt.
Was wie ein schlechter Witz klingt, ist schlichtweg das Resultat des halbherzigen Engagements der westlichen Allianz, mit deren Hilfe Langzeitherrscher Muammar Al-Gaddafi 2011 gestürzt und brutal ermordet wurde. Zwar gab es zahlreiche Projekte, die den Libyern Demokratie und Rechtsstaatlichkeit näher brachten. Der friedliche Ablauf der beiden Parlamentswahlen und von über 100 Lokalwahlen hat bewiesen, was die Libyer mehrheitlich wollten: Demokratie.
Kann Premier Dbaiba den Machtkampf gewinnen?
Doch die meisten waren schon wenige Tage nach dem Ende des Gaddafi-Regimes in ihr normales Leben zurückgekehrt. Die Chancenlosen schlossen sich den bewaffneten Gruppen an, die mit einem regelmäßigen Einkommen und Respekt lockten. Im Mafiastil übernahmen sie Firmen. Der Kommandeur der »Rada«-Miliz, Abdul Rauf Kara, kam mit einer Liste seiner Kämpfer in Dbaibas Büro und forderte den Premier trocken auf, diese zukünftig zu bezahlen.
Niemand kann zum derzeitigen Zeitpunkt sagen, ob Dbaiba den aktuellen Machtkampf gewinnen wird oder aus der Hauptstadt fliehen muss. Auf Hilfe aus den westlichen Hauptstädten wird er jedoch kaum zählen können. Auch wenn seine Regierung in einem überraschenden Schritt die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) für den Zeitraum von 2011 bis 2027 anerkannt hat, obwohl Libyen kein Unterzeichnerstaat des Gerichtsstatuts ist. Damit droht vielen Milizenkommandeuren eine Gefängniszelle in Den Haag. Er werde Osama Ndschim ausliefern, so Dbaiba. Der auch als Al-Masri bekannte Libyer ist für die Entführung und Folter tausender Migranten verantwortlich.
Europa interessiert sich nicht mehr für die Libyer
Die Ermittler des Strafgerichtshofs hatten nach jahrelanger Arbeit Beweise gegen ihn gesammelt und werden gegen Dutzende andere Kommandeure demnächst Anklage erheben. Al-Masri hat aber mittlerweile umgesattelt und hält die Migrantenboote davon ab, nach Lampedusa abzulegen. Als er im Januar einen Freund in einem italienischen Krankenhaus und ein Fussballspiel in Turin besuchte, forderte der IStGH von der italienischen Regierung die sofortige Verhaftung. Innenminister Matteo Piantedosi ließ Al-Masri erst in Handschellen legen, dann aber nach Libyen ausreisen – »aus Furcht vor Gefährdung der öffentlichen Ordnung Italiens«, wie offiziell erklärt wurde.
Milizenkommandeure wie Khalifa Haftar, Al-Kikli und Al-Masri haben verstanden, dass man in den europäischen Hauptstädten nur noch an einem Thema interessiert ist: das Stoppen der Migration über das südliche Mittelmeer. Dafür ist man in Berlin, Brüssel oder Rom auch bereit, diejenigen fallen zu lassen, die man seit 2011 unterstützt hat: die libysche Zivilgesellschaft. Über 5000 Kandidaten hatten sich 2021 bei den im letzten Moment abgesagten Parlamentswahlen als Kandidaten beworben – ein Rekord. Nun können sie wie Premier Dbabai nur dabei zusehen, wie Milizen die Macht unter sich aufteilen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.