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»Harvest« im Kino: Körperliche Liebe zur Natur

Athina Rachel Tsangaris Folk-Parabel »Harvest« erzählt von einer Dorfgemeinschaft im spätmittelalterlichen England

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Filmbilder wirken wie aus einer anderen Epoche.
Die Filmbilder wirken wie aus einer anderen Epoche.

Die Form folgt dem Szenario. Wenn man eine alte, versunkene Welt auf der Leinwand zur Anschauung bringen will, sollte man das mit alten Mitteln tun. Das Vormoderne wird gerne mit einem manchmal sehnsuchts-, manchmal angstvollen Zurück verbunden, und die filmtechnische Entsprechung in Athina Rachel Tsangaris Folk-Parabel »Harvest« sind die auf 16-Millimeter-Material gedrehten und entsprechend körnigen Bilder des Kameramanns Sean Price Williams. Die Filmbilder wirken wie aus einer anderen Epoche.

Wie weit es zurückgeht, also wann genau das spielt, es wird nicht klar. Irgendwie in die Vormoderne, in ein spätmittelalterliches England, an den Zeitpunkt eines Schwellenübergangs: von der hier als rohen, sich als organisch entwickelnd und naturhaft funktionierenden Welt einer bäuerlichen Gemeinschaft, die zuerst von einem gütigen Besitzer verwaltet wird, hin zu einer Welt, in der das Land nicht nur als Besitz, sondern auch als Kapital gesehen wird.

Zu Beginn kommt ein Landvermesser in das abgelegene Dorf, in dem »Harvest« spielt, und beginnt damit, diese kleine Welt zu kartografieren. Walter (Caleb Landry Jones), die Hauptfigur, wenn auch kein Held, ist fasziniert. Wie man die Umgebung auf so eine kleine Fläche übertragen und ordnen kann, und was das da sei. Das sei einfach ein Fleck, sagt der Landvermesser, ein Mangel. Der lasse sich aber ohne Weiteres beheben.

Mit der Entfaltung der Entwicklung von der rohen, mangelhaften Vormoderne, die mit Techniken wie Vermessung, Zählung und in der Konsequenz der Kapitalisierung des Landes konfrontiert wird, kommt »Harvest« so etwas wie einem Plot am nächsten. Die Romanvorlage des britischen Autors Jim Crace wird in ein sanft flirrendes, in seiner meditativen Ruhe unwirkliches Szenario übertragen, das stärker noch als die bisherigen Filme Tsangaris parabelhaft angelegt ist. Und das heißt, man sollte sich auf die Körnigkeit der Bilder, seine Farben und Klänge einlassen und keine spannende Erzählung oder etwas in der Art erwarten. Zu sehen sind eindrucksvolle Momente von Kollektivität, gemeinsames Tanzen um das Feuer, Körper, die in Rituale eingespannt sind, und eine sehr körperliche Liebe zur Natur, die sich hier sehr unmittelbar manifestiert: Walter lutscht lustvoll Baumrinde und steckt seine Zunge in Astlöcher.

Beim überwiegenden Teil der Bilder handelt es sich, wenn sie den Blick weiten mehr noch als die vom Nahen, um kleine Kunstwerke, gerade in ihrem durch das 16-Millimeter-Material verstärkten Eindruck der Beiläufigkeit und des Spontanen. Spontan ist hier nichts. Tsangari und Williams haben ihre Bilder, an denen sich keine Handlung entlanghangelt, sondern die an und für sich stehen, bis ins Letzte durchkomponiert.

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Was geschieht, ist, wie gesagt, im Modus der Parabel erzählt, anhand von Archetypen anstatt von Charakteren: die einfachen Dorfbewohner, der gute Herrscher, der böse, weil eigennützige Herrscher, der Vermittler, der zwischen den Stühlen sitzt.

Die vormoderne Gesellschaft ist keine romantisierte Idylle, sondern nach außen hin abgeschlossen, Fremde werden erst mit Misstrauen bedacht und dann attackiert. Die Köpfe der Kinder werden ritualisiert auf einen Stein gehauen, »damit sie wissen, wohin sie gehören«.

Das Neue aber erscheint in »Harvest« gleichfalls nicht als segensreich, im Gegenteil. Erst kommt der Landvermesser, dann intensiviert sich die Ausbeutung des Landes wie auch der Menschen, die es bewohnen und bestellen. Die Dorfbewohner reagieren mit Gewalt, und der Film wird zunehmend finster. »Harvest« interessiert sich für die Schwellensituation, ohne die eine oder die andere Seite zu bevorzugen. Beide Welten wie auch ihre Kollision werden mit einem unterschwelligen absurden Humor überzogen, der sich durch fast alle Filme von Athina Rachel Tsangari zieht.

»Harvest«: UK, Deutschland, Griechenland, Frankreich, USA, 2024. Regie: Athina Rachel Tsangari. Buch: Joslyn Barnes, Athina Rachel Tsangari. Mit: Caleb Landry Jones, Harry Melling, Rosy McEwen, Arinzé Kene, Thalissa Teixeira, Frank Dillane. 134 Min. Jetzt im Kino.

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