Temporäre Spielstraßen: Für ein kinderfreundlicheres Berlin

Die temporäre Spielstraße im Wrangelkiez bringt die Nachbarschaft näher zusammen und bietet Kindern öffentliche Freiräume in ihrer direkten Umgebung

  • Paulina Rohm
  • Lesedauer: 7 Min.
Mehr Freiräume für Kinder? Dafür müssen Anwohner*innen miteinander ins Gespräch kommen.
Mehr Freiräume für Kinder? Dafür müssen Anwohner*innen miteinander ins Gespräch kommen.

Es ist Freitagnachmittag. Auf der Wrangelstraße an der Ecke Sorauer Straße und Oppelner Straße stehen jeweils eine Absperrung und ein Schild, die auf die temporäre Spielstraße hinweisen. In dem Straßenabschnitt stellen Anwohner*innen noch ein paar Bänke und einen Tisch auf. Pünktlich um 15.30 Uhr ist die Wrangelstraße bereit, um bespielt zu werden. Es nieselt, viele Kinder sind noch nicht auf der Straße. Aber Florian Fleischmann von der Anwohner*inneninitiative, die die temporäre Spielstraße organisiert hat, zeigt sich gelassen: »Die kommen trotzdem. Spätestens wenn die meisten Kinder um 16 Uhr aus der Kita geholt werden, kommen die Eltern mit ihnen auf dem Weg nach Hause hier vorbei.«

Mittlerweile kann in Berlin auf etwa 50 Straßenabschnitten über die Sommermonate hinweg zu unterschiedlichen Zeiten Fahrradfahren gelernt, mit Bällen gespielt und auf dem Asphalt gemalt werden. So auch jeden Freitag von 15.30 bis 18.30 Uhr (außerhalb der Sommerferien) in der Wrangelstraße. Autos müssen während dieser Zeit den Straßenabschnitt umfahren, Radfahrer*innen dürfen zwar passieren, sollen allerdings schieben.

»Gerade die jüngeren Kinder sind auf solche Angebote angewiesen. Die können sich noch nicht ihre eigenen Freiräume suchen.«

Florian Fleischmann Anwohner*inneninitiative Wrangelstraße

Für drei Stunden wird hier eine Art Asphaltspielplatz errichtet, der den regulären Verkehr unterbricht. »Gerade die jüngeren Kinder sind auf solche Angebote angewiesen. Die können sich noch nicht ihre eigenen Freiräume suchen«, sagt Fleischmann. Er setzt sich schon lange für die Verkehrswende in Kreuzberg ein, auch als Bezirksverordneter für die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg.

Das Konzept der temporären Spielstraßen kommt aus England, in deutschen Städten entstanden sie in den 2010er Jahren, in Berlin gab es mit der Böckhstraße in Kreuzberg die erste im Jahr 2019. Temporäre Spielstraßen müssen jedes Jahr aufs Neue von Anwohner*innen bei der zuständigen Bezirksverwaltung beantragt und von ihnen selbst organisiert werden. »Das ist eine ganz bewusst eingesetzte Regelung«, erklärt Gabi Jung im Gespräch mit »nd«. Sie ist Sprecherin des Bündnisses temporäre Spielstraßen und Geschäftsführerin des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) in Berlin. Die vorausgesetzte Eigeninitiative ermögliche es, Räume dort zu schaffen, wo sie gebraucht würden. »Die Anwohner*innen wissen am besten, ob eine temporäre Spielstraße sinnvoll ist«, so Jung.

Bei diesem Vorhaben unterstützt das Bündnis und die zuständige landesweite Ansprechperson die Anwohner*inneninitiativen. Wurde ein Antrag eingereicht, wird er anschließend durch das jeweilige Bezirksamt daraufhin geprüft, ob er auch die Voraussetzungen erfüllt. Beispielsweise darf eine temporäre Spielstraße nicht an eine größere Parkplatzanlage angrenzen, sollte für den Sommer genügend Schatten bieten und in einer Nebenstraße liegen, die nicht durch den ÖPNV genutzt wird. Die Betreuung der Straßen müssen die Initiativen außerdem selbst organisieren.

Mit dem Konzept könne erprobt werden, wie sich eine solche Veränderung auf die jüngsten Anwohner*innen und den jeweiligen Kiezalltag auswirkt.

Mit dem Konzept könne erprobt werden, wie sich eine solche Veränderung auf die jüngsten Anwohner*innen und den jeweiligen Kiezalltag auswirkt, sagt die Sprecherin des Bündnisses. »Die Spielstraßen wurden als temporäres Modell eingeführt, um eine realistische Chance auf eine vielfältigere Straßennutzung über einen längeren Zeitraum hinweg zu ermöglichen«, sagt Jung.

Für die temporäre Spielstraße im Wrangelkiez ist heute zwar Saisoneröffnung – allerdings gibt es sie nicht zum ersten Mal. Schon in den letzten Jahren organisierten Anwohner*innen die Straßensperre in der Wrangelstraße. Die Lots*innen strahlen diese Gewohnheit aus. »Es wird jedes Mal entspannter«, erzählt Fleischmann. Am Anfang hätten sie noch viel Aufklärungs- und Beschwichtigungsarbeit leisten müssen. Etwa bei anderen Anwohner*innen, die für die temporäre Spielstraße ihre Autos umparken müssen und Läden, die während der Straßensperre nicht mit dem Auto beliefert werden können.

Wo die Initiative vor wenigen Jahren teilweise noch auf Unverständnis gestoßen sei, würde sie inzwischen weitestgehend respektiert.

Der Unterschied, den die temporäre Spielstraße im Wrangelkiez macht, ist deutlich spürbar. Wo Autos regelmäßig in zweiter Reihe parken, Autofahrer*innen auch gerne mal zu schnell durch die Straße rasen und Fahrradfahrer*innen den Gehweg nutzen, entschleunigt eine Absperrung erst mal den betreffenden Straßenabschnitt.

Was zunächst zu Konflikten führte, wandelte sich später in Verständnis: »Es fanden sich dann Kompromisse. Zum Beispiel haben wir angeboten, Waren mit dem Lastenrad zu den Läden zu schieben«, sagt Fleischmann, der die temporäre Spielstraße von Beginn an mitorganisierte. Wo die Initiative vor wenigen Jahren teilweise noch auf Unverständnis gestoßen sei, würde sie inzwischen weitestgehend respektiert. »Mittlerweile wissen die Bescheid und können sich leichter darauf einstellen. Außerdem profitieren die umliegenden Cafés davon, wenn Leute hier verweilen und sich zwischendurch was zu essen oder zu trinken holen.«

»Viele Dinge fallen einem gar nicht auf, wenn man sich nicht aktiv in die Rolle von Kleinkindern hineinversetzt.«

Eva Pyko Anwohner*inneninitiative Wrangelstraße

»Das ist echt eine Errungenschaft«, sagt Eva Pyko, eine der Lots*innen in der Wrangelstraße, mit stolzem Blick auf die Straße. Ihr Kind rennt vorbei und ruft: »Anna, ich will die Pfütze grün färben!« Pyko lebt seit vielen Jahren im Wrangelkiez. Als sie ihr erstes Kind bekam, ging sie auf einmal ganz anders durch die Stadt. »Viele Dinge fallen einem gar nicht auf, wenn man sich nicht aktiv in die Rolle von Kleinkindern hineinversetzt.« Damit meint Pyko den dominierenden Automobilverkehr und den dürftigen kindergerechten Freiraum in der Innenstadt.

Das Kinderrecht auf Spiel wird in Artikel 31 der UN-Kinderrechtskonvention festgelegt. Es könne nicht laut genug betont werden, schrieb Holger Hofmann im Vorwort des Kinderreports 2020: »Im Spiel entwickeln und erleben sie sich, im Spiel erproben Kinder Regeln und Gemeinschaft, kreativ und entdeckend, im Spiel entfalten sich Potenziale zur gesunden und sozialen Entwicklung.«

Aktuell bekommt das Projekt jährlich 150 000 Euro vom Senat – den angekündigten Kürzungen im Jahr 2023 konnte das Projekt noch entgehen. Ob die temporären Spielstraßen die wenige Finanzierung auch für die Jahre 2026/27 behalten, ist allerdings nicht sicher. Aktuell prüft die Senatsverwaltung die Finanzierungsvorschläge der einzelnen Ressorts, um das Parlament noch vor der Sommerpause über den Doppelhaushalt 2026/27 abstimmen zu lassen. Die Mittel werden vor allem für die Beschilderung und die Druckkosten gebraucht. »Wir arbeiten hier alle ehrenamtlich. Preis-leistungsmäßig ist das Projekt also ideal für die Stadt«, meint Florian von der Anwohner*inneninitiative im Wrangelkiez.

Die temporären Spielstraßen wirken sich auch positiv auf die Kiezgemeinschaft aus, meint Anwohnerin Eva Pyko: »Hier kommt die Nachbarschaft zusammen. Bisher zwar noch hauptsächlich Eltern und Kinder, aber daran arbeiten wir«, erzählt sie, während sich immer mehr Menschen auf der Straße tummeln. Die Spielstraße sei zwar zum Spielen da, allerdings nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene.

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