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Eine spezifische Art von Nirgendwo
Wie Aura entsteht: Mit dem Fotografen Axel Hütte vor Bergen, Brücken und Blumen
Der Blautopf ist eine berühmte Erscheinung in der Karstlandschaft bei Blaubeuren am Ostrand der Schwäbischen Alb. Es ist die Quelle der Blau, eines Flusses, der seinen Namen nicht der Farbe des Wassers, sondern der vorgermanischen Bezeichnung »Blava« verdankt und in Ulm in die Donau mündet.
Bekannt ist der Blautopf für die je nach Lichteinfall mehr oder weniger intensive, aber immer auffallend blaue Farbe seines Wassers, die durch einen physikalischen Effekt der Lichtstreuung an den im Wasser dispergierten Kalkpartikeln entsteht. »Blautopf, Germany, 2022« heißt eine Fotografie von Axel Hütte, die derzeit in dessen Ausstellung »Stille Weiten« in Remagen, im Arp Museum Bahnhof Rolandseck, gezeigt wird. Das in Blassblau gehaltene Foto ist so komponiert, dass ein klarer Bildmittelpunkt und damit eine Gewichtung des Dargestellten suspendiert ist. Ob die zu sehenden Farne im Wasser treiben, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Und es ist wie bei nahezu all den von Hütte in der Ausstellung gezeigten Fotos nicht nachvollziehbar, wo der Fotograf oder die Kamera standen. Eines sicheren Ufers können wir uns nicht vergewissern.
Über sein Vorgehen, das er »Bilderzeugung« nennt, sagt Hütte: »Ich stehe still, staune und versuche, dieses Staunen zu übersetzen.« Die »Blaubeuren« betitelten Fotografien, bei denen die natürlichen Farben in ihr optisches Gegenteil verkehrt wurden, sind abstrakte, nahezu psychedelisch anmutende Kompositionen. Dagegen evozieren Hüttes in der Antarktis entstandenen Werke ein Gefühl von Leere. »Durch die unterschiedlichen Motive hindurch«, so Julian Heynen im Katalog zur Ausstellung, »fokussieren die Fotografien zunehmend auf eine spezifische Art von Nirgendwo.«
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Axel Hütte ist der Düsseldorfer Fotoschule zuzurechnen, bekannt auch unter der Bezeichnung Becher-Schule. Sie wurde in den späten 1970er Jahren als Schule künstlerischer Fotografie von Bernd und Hilla Becher etabliert. Ihre Zentren waren die Düsseldorfer Kunstakademie, an der Bernd Becher von 1976 bis 1996 eine Professur für Fotografie innehatte, sowie das Becher’sche Atelier in Düsseldorf-Kaiserswerth.
Im Arp Museum sind 36 Werke von Axel Hütte zu sehen, zumeist mit einer Plattenkamera generierte Aufnahmen von Gebirgszügen, Gewässern, Gletschern, aber auch von Brücken und Blumen. Die Bilder sind menschenleer und weisen keine narrativen Strukturen auf. Hüttes Arbeiten, geleitet von einer streng kompositorischen Vision, sind keine im Schnellverfahren produzierten Aufnahmen, sondern Ergebnis ausführlicher Recherchen und auch oft langen Fahrten zu bestimmten Orten. Auf dem Schweizer Furkapass, so Hütte, habe er seinen Blick mindestens vierzigmal schweifen lassen. Wie oft er seinen Blick auf einen der drei Gipfel des österreichischen Berges Totenkopf hat schweifen lassen, wissen wir nicht. Hütte präsentiert uns das aus dünnen Nebelschwaden aufragende Gesteinsmassiv als auratisches Werk. In seinem Essay »Kleine Geschichte der Fotografie« nennt Walter Benjamin Aura »ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit«, wenn man beispielsweise an einem Sommermittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont folgt, der seinen Schatten auf den Betrachter wirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Erscheinung hat – das heißt, die Aura dieser Berge atmen.
Die streng geometrischen Brückenfotografien Hüttes, wie etwa »St. Marcel, Bridge, France, 1997« oder »Ise, Bridge, Japan, 2012/2017«, geben ebenso wie »Blautopf« Rätsel über den Standort des Künstlers (und damit des Auges oder der Kamera) auf. Bildparallele Ausschnitte von Kastenbrücken beherrschen mit ihrer Rasterform das Motiv. Die Vegetation im Hintergrund ist parzelliert und lässt sich kaum als Landschaftsausschnitt bezeichnen. Hüttes Brückenbilder verweisen am ehesten auf die Werke von Bernd und Hilla Becher, deren Projekt eine umfassende Bestandsaufnahme anonymer Zweckbauten aus der Zeit der Industrialisierung war, die auf ihren Schwarz-Weiß-Fotografien Strukturen von Stahlkonstruktionen besonders plastisch hervortreten ließen.
»Flowers« lautet der Titel der Serie von Aufnahmen, bei denen Hütte die Blumen aus einer tiefschwarzen Umgebung, aus der Mitte von nirgendwo aufscheinen lässt. Diese Blumen haben nichts gemein mit jenen der prunkvollen Bouquets historischer Gemälde. Was wir sehen, sind die durch Farbumkehr hell gewordenen Schatten von Schnittblumen, Blumen, die aus der Natur in das Künstleratelier, aus der Landschaft ins Stillleben gewechselt, zu Geistern ihrer selbst geworden sind. Ihre Wirkung entfalten die kalt leuchtenden Blumenstängel besonders, wenn sie auf gut zwei Meter hohen Papierabzügen aufragen. Die Blumen können als Symbole der Vanitas gesehen werden.
Axel Hütte: »Stille Weiten«, Arp Museum Bahnhof Rolandseck, bis 15. Juni. Der gleichnamige Katalog ist im Verlag der Buchhandlung Walter und Franz König in Köln erschienen.
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