Joe Biden: Der König als Hofnarr

Christoph Ruf über die Hybris amerikanischer und deutscher Spitzenpolitiker

Der frühere US-Präsident Joe Biden bei einem Besuch in Berlin.
Der frühere US-Präsident Joe Biden bei einem Besuch in Berlin.

Vor einigen Tagen ist ein Buch erschienen, das auch hierzulande die Chance auf eine größere Leserschaft hat. Jake Tapper und Alex Thompson, ausgewiesene Capitol-Experten, beschreiben in »Hybris« auf 400 Seiten, wie der einstige US-Präsident Joe Biden so lange an seiner erneuten Kandidatur festhielt, bis es zu spät war. Das Erstaunliche: Offenbar wussten alle in seinem Umfeld, im privaten wie im politischen, wie es um ihn steht. Allen voran Gattin Jill, die dennoch am energischsten darauf drang, dass ihr 83-jähriger Mann Präsident bleibt. Wobei man sich natürlich zuallererst mal fragen muss, wie man es schafft, die Selbstachtung derart auszublenden, dass man an der Macht festhält, obwohl die eigenen Aussetzer längst weltweit zum Amüsement noch der allerdümmsten Menschen geworden sind.

Die politisch entscheidende Frage ist aber wohl, warum so lange niemand im inneren Zirkel der Demokraten es geschafft hat, den greisen und, wie man nun weiß, schwerkranken Präsidenten davon zu überzeugen, dass es besser ist zu gehen. Schwer zu verstehen, dass die selben Leute, die offenbar kurze Zeit später den beiden Buchautoren bereitwillig die kompromittierendsten Details von Bidens Verfall schilderten, nicht bereit waren, den Präsidenten vor sich selbst zu schützen.

Christoph Ruf

Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet in seiner wöchentlichen nd-Kolumne »Platzverhältnisse« politische und sportliche Begebenheiten.

Einen Präsidenten, der, so steht es im Buch, selbst dann keine zwei Minuten mehr ohne Patzer reden konnte, wenn er vom Teleprompter ablas. Und der, wenn er frei redete, schon mal von Treffen mit François Mitterrand und Helmut Kohl berichtete, die blöderweise viele Jahre zuvor gestorben waren. Der König als Hofnarr, die Banalität der Macht – all das hätte durchaus humoristisches Potenzial. Regelrecht wütend wird man allerdings, wenn man sich überlegt, dass einem Donald Trump wohl erspart geblieben wäre, wenn sich die Demokraten etwas professioneller angestellt hätten als ein Hühnerzüchter-Verein.

Die Parallelen zu Deutschland und zur SPD sind offensichtlich, auch wenn Olaf Scholz keine Demenz-Symptome zeigte. Aber dass mit ihm als unbeliebtesten Kanzler der Nachkriegsgeschichte kein anderes Ergebnis herauskommen konnte, war – außer Scholz – wohl allen Bürgerinnen und Bürgern klar. Noch klarer muss es allen in der Parteiführung gewesen sein, schließlich kannten sie die Rückmeldung von der Basis, die in weiten Teilen keine Lust hatte, für jemanden zu werben, den sie selbst für ungeeignet hielten. In der SPD-Führung gab es nur einen, der die 16,4 Prozent sehenden Auges einkalkulierte. Lars Klingbeil wusste, dass Scholz danach zurücktreten würde und er nur »Hier« rufen musste, um alle Macht in Partei und Koalition an sich zu reißen. Unter einem Kanzlerkandidaten Boris Pistorius, der fraglos deutlich besser abgeschnitten hätte, wäre Klingbeil diese Machtfülle hingegen verwehrt geblieben.

Übrigens: Das Biden-Buch heißt in der deutschen Ausgabe »Hybris«, was mir längst nicht so gut gefällt wie der subtilere Original-Titel »Original Sin« (»Ursünde«). Am ärgerlichsten ist aber, dass »Hybris« als Titel für künftige Politiker-Biografien ausscheidet. Dabei gäbe es sowohl für Bücher über Scholz als auch über Klingbeil keinen geeigneteren Titel.

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