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Kinder mit chronischen Erkankungen: Allein im Behördendschungel
Unterstützung von pflegebedürftigen Kindern und Jugendlichen scheitert an Bürokratie
Ganz oben, im vierten Stock einer Altbauwohnung, wohnt Matis. Matis ist zehn Jahre alt, liebt Pflanzen, hat regelmäßig Besuch von seinen Freunden und sitzt im Rollstuhl. Matis hat die Nervenerkrankung Adrenoleukodystropie (ALD), durch die er nicht mehr sprechen kann und kaum in der Lage ist, sich zu bewegen. Die Krankheit sorgt dafür, dass die Nachrichtenübermittlung seiner Nerven gestört ist. Vor zwei Jahren begann er zunächst zu humpeln und verlor immer mehr seine Feinmotorik. Da die ALD von Matis fortschreitend ist, weiß niemand, wie viel Zeit er und seine Familie noch haben.
Um Kinder wie Matis geht es im Berliner Familienbericht. Vom Berliner Senat ist der Beirat für Familienfragen beauftragt, einmal in der Legislatur die Lage von Berlins Familien darzulegen. Der bereits im Mai veröffentlichte Bericht enthält dabei nicht nur Daten, sondern auch Empfehlungen. Der Beirat, der ehrenamtlich und unabhängig arbeitet und verschiedene Interessengruppen repräsentiert, wählt die Schwerpunkte eigenständig. Es ist das erste Mal, dass sich der Bericht vertiefend mit Familien mit Pflegeverantwortung befasst und so auch Kindern wie Matis eine Stimme gibt.
Statistisch leiden 16,3 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland an einer chronischen Erkrankung. Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland weisen zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen einen erhöhten Versorgungsbedarf auf. Das entspricht 63 000 Kindern und Jugendlichen in Berlin. Jedoch sind nur 8580 Kinder und Jugendliche in der Hauptstadt als schwerbehindert anerkannt. 9319 Kinder und Jugendliche sind nach dem Pflegeversicherungsgesetz pflegebedürftig. Von diesen erhielten nur 201 Unterstützung durch einen ambulanten Pflegedienst.
»Wir haben null Hilfesysteme angeboten bekommen.«
Caro E. Mutter des chronisch kranken Matis
»Wir haben null Hilfesysteme angeboten bekommen«, erzählt Caro E., Matis Mutter, dem »nd«. Zwar wurde Matis von Ärzt*innen engagiert betreut, doch es fehlte an professioneller sozialer und psychologischer Unterstützung. Als E. und ihr Partner nach Matis’ Diagnose schließlich um eine Sozialberatung baten, dauerte es drei Monate, bis ein Gespräch stattfinden konnte. »Unsere Sozialarbeiterin war selbst überarbeitet, dann krank und später im Urlaub«, so E.
Die bürokratischen Herausforderungen seien nur zu bewältigen gewesen, weil die Familie aus ihrem Freundeskreis unterstützt wurde. So konnten sie Kontakt mit der Björn-Schulz-Stiftung aufnehmen, die Familien mit lebensverkürzend erkrankten Kindern und Jugendlichen unterstützt. Laut Caro E. war die Stiftung überrascht, warum die Familie erst so spät von ihnen erfahren hatte. Das Problem, glaubt Caro E., sei, dass man das Hilfesystem erst kennen müsse, um Unterstützung zu erhalten. »Ich habe mich ständig gefragt, was, wenn ich nicht gut Deutsch könnte, oder Probleme hätte, auf Menschen zuzugehen, oder einfach nicht genügend Energie hätte?«, fragt sich Caro E.
Die Stiftung habe dafür gesorgt, dass die Familie Zugang zu Krankenpflegefachkräften hat, die sie sowohl medizinisch als auch sozial unterstützen können. »Ich wurde gefragt, was unsere Themen sind und wobei ich Hilfe brauche. Ich bat darum, dass sie die Kommunikation mit der Krankenkasse regeln«, erzählt Caro E. Denn diese sei unglaublich anstrengend. Regelmäßig müssten E. und ihr Partner Gehaltsnachweise vorlegen und um zusätzliche Hilfen und Werkzeuge kämpfen. Als die Familie die Krankenkasse bat, die Kosten für kleine Rampen in der Wohnung für den Rollstuhl zu übernehmen, leitete diese die Familie an den Teilhabefachdienst weiter. Die Begründung: Die Rampen seien kein medizinisch notwendiges Hilfsmittel. Der Teilhabefachdienst forderte daraufhin drei Kostenvoranschläge, bevor sie den Antrag bearbeiten könnten. »Wer hat dazu Zeit?«, fragt Caro E.
Dass sowohl sie als auch ihr Partner selbstständig sind, sieht Caro als Segen und als Fluch zugleich. Einerseits konnten die Eltern abwechselnd bei Matis in Leipzig sein, wo er eine fünfmonatige Stammzellentransplantation durchlief.
Caro E. und ihr Partner legen selbstständig aus ihren Einkünften Geld für die Altersvorsorge zurück. Als Rente wird dies vom Staat allerdings nicht anerkannt. Und so muss die Familie mehr finanziell stemmen als vergleichbare angestellte Eltern. Um die Kosten auszugleichen, starteten Familienfreunde eine Crowdfunding-Kampagne.
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Obwohl Matis seit der Stammzellentransplantation ein Schwerbehindertenausweis zusteht, besitzt er diesen noch nicht. Die Bearbeitung laufe seit ungefähr einem Jahr, so Caro E. Die Kommunikation mit dem zuständigen Versorgungsamt sei schwierig. Denn ein direkter Kontakt existiere nicht. Wenn E. über das Bürgertelefon zum Amt durchgestellt wird, hebt niemand ab. Auf schriftliche Anfragen erhält sie monatelang keine Antwort. »Es ist ein behördliches Versagen«, sagt Caro E.
Die Herausforderungen, denen Matis und seine Eltern gegenüberstehen, sind nicht ungewöhnlich. In seinem Bericht forderte der Familienrat ein Umdenken im Umgang mit chronisch kranken, pflegebedürftigen und behinderten Kindern und Jugendlichen. Durch die Unsichtbarkeit im Alltag fehle der Gesellschaft das Bewusstsein für die Bedürfnisse der Kinder und Familien. Um das zu erreichen und den Alltag von Eltern zu erleichtern, wird in dem Bericht Bürokratieabbau gefordert. Insbesondere sollen, so die Empfehlung, Regelungen entschlackt, Zuständigkeiten gebündelt und Doppelstrukturen vermieden werden. Im Hilfssystem bestehe, so der Familienrat, massiver Fortbildungsbedarf zur Inklusion, insbesondere bei Jugendämtern und im Schulbereich.
Seit 2024 sollen sogenannte Verfahrenslots*innen Eltern mit beeinträchtigten Kindern in Berlin helfen. Im Oktober 2024 waren laut dem Bericht in gerade mal zwei Bezirken Lots*innen eingestellt. »Die gesetzliche Pflicht, Verfahrenslots*innen zur Begleitung der Familie einzustellen und zu schulen, hat Berlin immer noch nicht erfüllt«, schließt der Bericht des Familienbeirats.
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