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- Grüne Skandal-Politikerin
Die Aufmerksamkeitsfalle
Eigentlich verdient jeder Solidarität, der von der »Bild« attackiert wird. Bei Jette Nietzard fällt das schwer
Eines ist klar: Wer von der »Bild« angeschossen wird, hat Solidarität verdient. Und wer von Winfried Kretschmann zum Parteiaustritt aufgefordert wird, erst recht.
Insofern müsste ich also jetzt ein flammendes Plädoyer für Jette Nietzard halten. Leider gelingt mir das nicht, auch wenn ich mir wirklich Mühe gebe: Wenn man sich für drei von vier Posts entschuldigt und sich für neun von zehn entschuldigen müsste, wird das schwierig. Dabei fand ich einen Post, über den sich die üblichen Verdächtigen nach Kräften echauffiert haben, nicht einmal schlecht. Bei »Ich freue mich, dass der Mann von Franca Lehfeldt jetzt kürzer tritt, um ihr Karriere und Kind zu ermöglichen« (nachdem Christian Lindner aus dem Bundestag gewählt wurde) habe ich geschmunzelt. Und – noch überraschender bei Nietzard-Äußerungen – ich habe die Intention des Posts verstanden. Letzteres ist mir vorher und nachher nicht mehr vergönnt gewesen.
Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet in seiner wöchentlichen nd-Kolumne »Platzverhältnisse« politische und sportliche Begebenheiten.
Als sie nach den Böllerverletzungen schrieb, dass »Männer, die ihre Hand beim Böllern verlieren, zumindest keine Frauen mehr schlagen (können)«, schob ich die Schlichtheit der Argumentation noch aufs Parteibuch und wartete auf ihren Post nach dem nächsten Verkehrstoten: »Fußgänger, die von SUVs überfahren werden, können wenigstens nicht mehr zum Militär eingezogen werden« – das wäre ähnlich clever gewesen.
Doch leider war der überüberübernächste Aufreger nicht nur so doof wie üblich, sondern eine intellektuelle Katastrophe, die tief blicken ließ. Gerade zur Gaza-Frage – und wenigstens das könnte man als Berufspolitikerin verstanden haben – kann man sich nicht äußern, wenn man nicht vorher über jede Formulierung und jeden Gedanken nachgedacht hat. Es ist nun mal kein kleiner Unterschied, ob man versucht, dem Massaker vom 7. Oktober 2023 auch sprachlich gerecht zu werden. Oder ob man wie Nietzard fälschlicherweise von einer »Militäraktion« schreibt. Wer einigermaßen empathiefähig ist und die Bilder vom Hamas-Massaker vor Augen hat, formuliert anders. Wer politisch etwas erreichen will, denkt über Formulierungen länger nach als ... gar nicht.
Denn was sie mutmaßlich sagen wollte – Israels Gaza-Politik steht längst in keiner Relation mehr zum Anlass – ist ja richtig. Nur redete nach dem Post niemand darüber.
Aber wer so formuliert wie Nietzard, zeigt entweder, dass er nicht nachgedacht hat – was bei dieser Thematik noch weniger ein Kompliment ist, als es das generell ist. Oder, und das ist viel wahrscheinlicher, dass sich das Bedürfnis aufzufallen, um im Gespräch zu bleiben, längst verselbständigt hat. Schon lustig, dass die Frau, die sich selbst am anderen Ende des (ex-)grünen Spektrums wähnt, ganz eindeutig das Boris-Palmer-Syndrom hat.
Wie weit es Jette Nietzard hingegen als Berufspolitikerin schon gebracht hat, zeigt ihre Kretschmann-kompatible Antwort auf die von der »Zeit« aufgeworfene Frage nach einem Rücktritt: »Meinen Verband und die Leute, die mich gewählt haben, im Stich zu lassen, wäre nicht fair.« Wer noch Zweifel hatte, ob die Frau tatsächlich so selbstgerecht und unsensibel ist, wie man sie sich nach ihren Posts vorstellt, möge das Interview bis zum Ende lesen. Dann sind die Zweifel zur Gewissheit geworden.
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