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Hafenstube Weißwasser: Bis alles in Scherben fällt
Die Angriffe auf das Kulturzentrum zeigen exemplarisch das zerstörerische Wirken der AfD
Die Scherben füllen viele Kisten. In der Telux-Glasfabrik in Weißwasser seien bis in die 1990er Jahre Glaskolben produziert worden, sagt Patrick Pirl. Einige der zarten Gefäße stehen noch in den verwaisten Hallen, durch die der junge Mann vom Soziokulturellen Zentrum (SKZ) Telux Hafenstube führt. Der Weg geht vorbei an Öfen, in denen einst das Glas für ihre Herstellung geschmolzen wurde, die aber seit Jahren erkaltet sind, und an Anlagen, auf denen die frisch geblasenen Kolben abgekühlt wurden. Sie wurden dazu mit allergrößter Vorsicht auf Stopfen aus Gummi gesteckt. Irgendwann ließ man alle Vorsicht fahren. Für die Kolben gab es keine Nachfrage mehr. Die Restbestände wurden zertrümmert. Auf den Bergen von Scherben liegt inzwischen dick der Staub.
Die Hafenstube, die einige Räume und Hallen in dem ehemaligen Glaswerk bespielt, liegt nicht in Scherben. Noch nicht, muss man sagen. Ende vorigen Jahres beschloss der Stadtrat von Weißwasser, in dem die AfD seit ihrem 29,9-Prozent-Erfolg bei der Kommunalwahl vom Juni mit 22 Stadträten die mit Abstand stärkste Fraktion stellt, die Kürzung der städtischen Zuschüsse um 30 Prozent, rückwirkend für das fast abgelaufene Jahr. Kürzlich verweigerte der Rat dann den sogenannten »Sitzgemeindeanteil« in Höhe von 15 Prozent, der nötig ist, damit das Telux auch im Jahr 2025 vom sächsischen Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien gefördert wird. Es geht um 44 000 Euro aus der Stadtkasse – und um die Existenz des Vereins. Werde die Fördersumme reduziert oder gar gänzlich gestrichen, »fällt die Finanzierung in sich zusammen«, erklärt das SKZ. Der Verein wäre insolvent. Dass es zunächst nicht dazu kommt, ist einer Spendenkampagne zu danken, die 30 000 Euro einbrachte. Zusammen mit einem vom Stadtrat in Aussicht gestellten Betrag von 14 000 Euro könnte das reichen, um der Hafenstube für 2025 die Existenz zu sichern.
In der Hafenstube schlägt das kulturelle Herz von Weißwasser. In der Stadt im äußersten Nordosten von Sachsen, nicht weit von den Grenzen zu Polen und Brandenburg entfernt, gibt es zwar auch ein Glasmuseum und eine Bibliothek, einen Tierpark und eine Station junger Techniker und Naturforscher. Aber »etwas Vergleichbares wie das Telux gibt es nicht«, sagt Torsten Pötzsch, langjähriger Oberbürgermeister der Stadt. Hier finden Konzerte, Lesungen und Filmvorführungen statt, hier gibt es regelmäßig eine Disco für Schüler und einen Strickzirkel für Seniorinnen. Kürzlich gab man dem in der Stadt beliebten Kneipen-Bingo ein neues Domizil, nachdem der bisherige Ausrichter in Rente ging. Das Telux organisiert eine legendäre Schlagerparty im Jahnbad und einen Weihnachtsmarkt, »wo man mit seinen Kindern die Zeit vergessen kann«, sagt Pötzsch. »Wir sind ein Haus, das für alle da ist und in dem jeder mitmachen kann«, sagt Christian Klämbt, der Vereinsvorsitzende des SKZ. Etwas Vergleichbares, fügt er hinzu, »gibt es im Umkreis von 40 Kilometern nicht«.
Was das Telux nicht ist: ein linksalternatives Haus. Etiketten wie dieses wurden einem Jugendtreff angeklebt, den Klämbts Verein zuvor an anderer Stelle in Weißwasser betrieb. Anfang der 1990er Jahre fand dort »akzeptierende Jugendarbeit« mit jungen Rechtsextremen statt: »Da war es der Naziklub«, sagt er. Mit wechselnder Klientel gab es dann neue Etiketten: Zeckenklub, Kifferclub, Russenclub. 2015 wurde der SKZ e.V. gefragt, ob er einen insolventen Vorgänger beerben und ein Kulturzentrum nicht nur für Jugendliche führen könnte. Bei der Suche nach einem Domizil wurde man im ehemaligen Glaswerk fündig – in den Hallen, in denen die »Hafen« genannten Keramikbottiche für die Glasschmelze hergestellt wurden: »Unser Name hat, anders als viele denken, nichts Maritimes«, sagt Klämbt. Das Haus, das sein Verein heute betreibt, besuchen Junge und Alte, Gymnasiasten und Glasarbeiter in Rente, Linksalternative und Konservative. »Wir haben eine soziale Bindefunktion in der Stadt«, sagt Klämbt. Ex-Rathauschef Pötzsch sagt: »Das Telux ist hier der kulturelle Anker.«
Kultur und der durch sie gestiftete Zusammenhalt ist für jede Kommune wichtig. In Weißwasser ist beides indes womöglich noch etwas wichtiger als anderswo. Die Stadt hat eine große, von der Industrie geprägte Vergangenheit. Vor 100 Jahren war sie das weltweite Zentrum der Glasindustrie; es gab elf Glashütten. In der DDR kamen 60 Prozent des Industrie- und Bleiglases aus Weißwasser. Das sorgte ebenso für Arbeit wie die Braunkohle, die im Tagebau Nochten gefördert und im nahe gelegenenen Kraftwerk Boxberg zu Strom umgewandelt wurde. Die Stadt wuchs rasch; zum Ende der DDR zählte sie 37 388 Einwohner.
Danach ging es bergab. Die Glasindustrie brach zusammen; heute gibt es nur noch ein Werk mit 300 Beschäftigten. Auch in der Kohle gingen Tausende Jobs verloren, spätestens 2038 wird die Förderung gänzlich eingestellt. Viele zogen weg, der Arbeit hinterher. Die dablieben, wurden gemeinsam älter. Heute hat Weißwasser weniger als 16 000 Einwohner, die düstersten Prognosen sagen einen weiteren Rückgang auf 12 500 voraus. Das Durchschnittsalter stieg binnen drei Jahrzehnten von 32 auf 51 Jahre. All das hinterlässt Spuren auch in der kollektiven Psyche. Drei Jahrzehnte Deindustrialisierung, Arbeitsplatzverlust und Abwanderung zehrten an der Substanz und den Kräften. Viele Menschen, die die Stadt in jungen Jahren aufgebaut haben, sind nun Zeugen ihres Niedergangs, der ihr früheres Wirken scheinbar wertlos werden lässt. Auch das trägt dazu bei, dass eine auf Verbitterung und Ressentiment setzende Partei wie die AfD in Weißwasser derart reüssiert.
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Der Frust sitzt nicht nur bei den Älteren tief. Als in der Hafenstube vor einigen Jahren ein künstlerischer Workshop für Schüler stattfand, schuf einer der Jugendlichen ein Bild, das heute vor dem Büro von Patrick Pirl hängt. Bis auf einige Fotos, die Industrieruinen in Weißwasser zeigen, ist die Leinwand tiefschwarz. »Das war sein Bild von seiner Heimatstadt«, sagt Pirl. In der Hafenstube verstehen sie das triste Kunstwerk als stille Mahnung. Sie wollen, dass Junge wie Alte anders auf ihre Stadt blicken, dass sie diese als Ort empfinden, an dem sie sich verwirklichen und Ideen umsetzen können. »Wir wollen für Lebensqualität sorgen und dafür, dass Leute sagen: Ich muss hier nicht weggehen«, sagt Pirl, der 2005 nach dem Abi wegging, in Dresden und Cottbus studierte – und zwölf Jahre später mit seiner Frau zurückkam.
Viele in Weißwasser messen der Hafenstube ähnliche Bedeutung zu. Ohne das Kulturzentrum würde der Ort »zur Schlafstadt«, sagte kürzlich die Teilnehmerin einer Demonstration zu deren Unterstützung. Auch die Besucherzahlen des Kulturzentrums sprechen für sich: 60 000 Menschen im Jahr nutzen die Angebote. Rein rechnerisch kommt also jeder Einwohner, vom Baby bis zum Greis, knapp viermal im Jahr. Und doch gibt es starke Kräfte, die dem Haus die Unterstützung entziehen wollen. Vor der Oberbürgermeisterwahl in Weißwasser, die Ende September stattfand und bei der die AfD einen Kandidaten mit Verbindung ins Reichsbürger-Milieu aufstellte, erklärte deren in der Region gebürtiger Bundesvorsitzender Tino Chrupalla, man wolle bei »den ganzen soziokulturellen Zentren« den Rotstift ansetzen. Im November wurden Nägel mit Köpfen gemacht und die Gelder für 2024 gekürzt. Im Mai nun schaffte es die Partei, im Stadtrat Mehrheiten für Beschlüsse zu organisieren, die das Telux existenziell gefährden.
Inhaltliche Kritik bleibt dabei aus. »Da kommt gar nichts«, sagt Vereinschef Klämbt. Vielmehr verweisen AfD-Vertreter auf die klammen Kassen der Stadt. Deren Haushalt ist nach Jahren des industriellen Niedergangs und des Bevölkerungsschwunds, der fehlende Steuereinnahmen und sinkende Landeszuschüsse zur Folge hat, in permanenter Schieflage. Doch das dürfte nur ein vorgeschobenes Argument sein. Tatsächlich muss man davon ausgehen, dass der AfD das Konzept der Hafenstube nicht passt. Ronny Hentschel, der Chef ihrer Ratsfraktion, erklärte, Kultur müsse »aus der Mitte der Gesellschaft entstehen und nicht durch Fördergelder«. Torsten Pötzsch glaubt, die AfD störe an der Hafenstube »die Vielfalt, der Umstand, das dort ganz verschiedene Menschen zusammentreffen – und dass sie dort keinen Fuß in die Tür bekommen«. Das, fügt der Ex-Rathauschef hinzu, »wollen sie weg haben«.
»Böse gesagt, ist es die gleiche Strategie, die auch die Nazis einst verfolgt haben.«
Torsten Pötzsch Ex-Oberbürgermeister
Die Angriffe auf die Hafenstube sind dabei freilich nur ein Teil einer Politik, die sich auch auf andere Ziele einschoss – den Oberbürgermeister Pötzsch zum Beispiel. Dieser hatte sich 2024 nach 14 Amtsjahren aus der Kommunalpolitik zurückgezogen, zermürbt von jahrelangen Angriffen und Diffamierungen. Im vergangenen Spätsommer hatte er berichtet, wie permanent Gerüchte gestreut wurden, an denen schließlich auch seine Familie zerbrach, und Anfeindungen bis hin zu offenen Morddrohungen bei ihm eingingen. »Da stand dann, solche wie mich hätte man vor 90 Jahren zur Guillotine geführt«, sagte er und fügte an, das sei »fast Tagesgeschäft« gewesen. Die Vorfälle anzuzeigen, habe er irgendwann aufgegeben: »Mit den Einstellungsbescheiden der Polizei konnte ich ganze Wände tapezieren.«
Pötzsch war einst in die Kommunalpolitik gegangen, weil er die Transformation in Weißwasser nicht als Niedergang geißeln, sondern als Chance nutzen wollte. 2004 bespielte er mit Freunden einen zum Abriss vorgesehenen Plattenbau mit Kunst. Daraus ging die Wählervereinigung hervor, die ihn später als OB stützte. Jahre später holte er mit der Architektin Dorit Baumeister eine Frau als Baudezernentin in sein Rathaus, die in Hoyerswerda ähnliche Ansätze praktiziert und die Devise ausgegeben hatte, man wolle »Avantgarde beim Schrumpfen« sein. In Weißwasser entwickelte sie in aufwändigen Planungsrunden und mit viel Bürgerbeteiligung ein Stadtumbau-Konzept für eine große Industriebrache im Stadtzentrum, auf der früher mit der Gehlsdorf-Hütte ebenfalls ein großes Glaswerk gestanden hatte. Das Konzept fand bundesweit Beachtung, Bund und Land sagten großzügige Förderung zu. Der neue, rechtskonservative Stadtrat stutzte die kühnen Pläne indes auf ein Mindestmaß zusammen. »Jetzt müssen wir Fördergelder zurückgeben und machen uns komplett unglaubwürdig«, sagt der Ex-OB.
Das Vorgehen gegen progressive Kommunalpolitiker, die Attacken auf eine lebendige Kultureinrichtung, der Abschied von Projekten, die Aufbruchstimmung und Zuversicht vermitteln sollten – all das sind Teile eines größeren Plans, glaubt Pötzsch: »Der AfD geht es um Zerstörung.« Das gesellschaftliche Leben solle torpediert, positive Entwicklungen sollten abgebrochen werden. »Und wenn alles am Boden liegt, kommen sie wie Phönix aus der Asche und präsentieren sich als letzte Rettung«, sagt der langjährige Rathauschef und fügt nachdenklich an: »Böse gesagt, ist es die gleiche Strategie, die auch die Nazis einst verfolgt haben.« Die Nationalsozialisten sangen in den 1930er Jahren in einem bei ihnen populären Lied, man werde »weiter marschieren, bis alles in Scherben fällt«. Die Zeile kommt einem in den Sinn, wenn man in den alten Hallen der Telux-Fabrik vor den Kisten voller zerbrochener Glaskolben steht und dann in die Hafenstube zurückkehrt, in der neuerdings jeden Dienstag zum Bingo-Abend geladen wird – und keiner weiß, wie lange noch.
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