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- Buch "Früher war alles anders"
Ein kurzer Urlaub von der Gegenwart
Anders, nicht besser: In seinem neuen Buch möchte der Autor Frank Jöricke veranschaulichen, was früher anders war
Nostalgie wird vom Unbehagen älterer Menschen an der Gegenwart ausgelöst. Im Rückblick zerfließt das eigene Leben in bittersüße Momente, in denen man als Kind unter dem mit Lametta geschmückten Tannenbaum das Paket mit dem Playmobil-Piratenschiff findet. Man legt sich in seine Erinnerungen hinein wie in ein wohlig warmes Vollbad am Samstagabend vor »Wetten, dass..?«. Das ozeanische Gefühl der Einheit des Ichs mit dem Augenblick schrumpft dabei auf den Sanitärbereich zusammen. Der spießbürgerliche Muff, die Angst vor dem Waldsterben, dem Ozonloch, dem Dritten Weltkrieg dürfen vielleicht ironisch an der Badezimmertür kratzen, aber im Mittelpunkt stehen immer der Ich-Erzähler und seine kleine Welt, und der sagt: So schön wird es nie wieder.
Nostalgie hat aber auch eine grantige, spießbürgerliche Seite. Die jungen Leute haben ja keine Ahnung. So ein Benehmen, so ein Aussehen oder so eine Faulheit hätte es früher nicht gegeben! Da wäre was los gewesen! Es ist immer ein bisschen wie bei Ernst Jandl: »vater, komm erzähl vom krieg!« Oder, wie meine Mutter gerne sagte: »Das ist so lange her, dass es schon gar nicht mehr wahr ist.« Und so ist es. Nostalgie ist ein kurzer Urlaub von der Gegenwart, in einer Vergangenheit, die es so nie gegeben hat.
Auch Frank Jörickes Buch »Früher war alles anders« ist ein Generationenbuch. Man merkt es schon am Untertitel: »Von Dr. Sommer bis Sonntagsbraten – Reise zurück in eine wilde Zeit«. Jöricke, 1967 geboren, schreibt über die Zeit seiner Kindheit und Jugend in den 70er und 80er Jahren. Das Werk entstand aus 60 Zeitungsartikeln, die der Autor für den »Trierischen Volksfreund« verfasst hat. Und tatsächlich hat es etwas Archäologisches, wenn er sich mit Themen wie »Partykeller«, »Fernsehen«, »Tanzschule« oder »Stammtisch« befasst. Aber auch er ist nicht gefeit vor nostalgischem Grimm. Beispielsweise im Kapitel »Hartplatz«. Da erzählt er auch vom Krieg. Der Hartplatz habe die Kinder und Jugendlichen abgehärtet. »So spiegelte der Fußball das Leben wider«, meint er. »Denn auch dort ging man aus couragierten Attacken nicht immer unversehrt hervor.« Der Rasenplatz dagegen ist für ihn ein Symbol für die Verweichlichung durch Helikopterelternerziehung. Der Rasenplatz lehre einen gar nichts. »Er ist hübsch anzusehen, wirbelt keinen Staub auf, und wer auf ihn fällt, landet weich.«
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Großartig dagegen sind Kapitel wie »Schule«, in denen Jöricke die krachend gescheiterte Reform des Mathematikunterrichts in den frühen 70ern prägnant auf den Punkt bringt: »… Eltern verzweifelten darüber, dass der Lehrstoff für Sechsjährige ihre geistigen Kapazitäten überstieg.« Auch das längst zu Grabe getragene Sprachlabor exhumiert Jöricke. In diesen, damals an die Brücke des Raumschiffs Enterprise erinnernden Räumen sollten Schüler*innen über Kopfhörer individuell Fremdsprachen lernen. Den Schwachpunkt dieser Einrichtungen erläutert der Autor larmoyant: »In der Praxis scheiterten die ehrenwerten Absichten der Reformer regelmäßig daran, dass die Technik den Geist aufgab.« Anhand dieser Wracks im Abgrund der Bildungspolitik könnten sich pädagogische Profis durchaus noch einmal Gedanken über aktuelle Reformen wie die Digitalisierung machen. Diese Art des Zurechtrückens der Gegenwart gelingt Jöricke immer wieder. »Man wird vielleicht weiser«, schreibt er im Kapitel »Nostalgie«, in dem er das Verhältnis seiner Texte zu Vergangenheit und Gegenwart zusammenfasst, »aber nicht unbedingt glücklicher.«
Seine Weisheit hält ihn keineswegs davon ab, starke Urteile zu fällen. Etwa, dass Modern Talking »nach Tschernobyl die größte Katastrophe der 80er« gewesen sei. Und in Eurodance erkennt er gar eine »akustische Foltermethode«. Das ist dann vielleicht auch eine Form nostalgischer Distinktionsgewinnsfolklore.
Die Sprache Jörickes schiebt sich wie ein Museumsglas zwischen Leser und Text.
»Anhand von konkreten Beispielen wie dem Telegramm, der Vokuhilafrisur und dem Sendeschluss wollte ich veranschaulichen, was früher anders war«, beschreibt der Autor sein Anliegen. Wohlgemerkt: anders, nicht besser. Denn Jöricke will sich ausdrücklich von der handelsüblichen Nostalgie à la »Generation Golf« distanzieren. Er tut dies, indem er statt eines Ich-Erzählers konsequent das generalisierte Personalpronomen »man« oder ein auktoriales »sie« verwendet. »Man« meint niemand Bestimmten, sondern einfach »die Leute«. Es verallgemeinert das Erlebte, hebt es aus der individuellen Erfahrung heraus und verschiebt es in eine Art kollektives Gedächtnis. Der Existenzialphilosoph Martin Heidegger hat dieses »Man« sogar in seine Terminologie aufgenommen. Bei ihm steht es für die alltägliche Existenz, in der der Einzelne im Gewöhnlichen verschwindet. Man tut, was man tut, weil man es eben tut.
Die Sprache Jörickes schiebt sich wie ein Museumsglas zwischen Leser und Text. Vielleicht ist genau das sein Ziel: nicht das persönliche Nacherleben, sondern das distanzierte Ausstellen von kollektiven Existenzformen der 60er und 70er in der Bonner Republik. Nicht als private Erinnerungen, sondern als Exponate in einem größeren Zusammenhang. Mit jedem Kapitel betritt man einen neuen kleinen Ausstellungsraum, den man durchwandert und in dem man sich in den Exponaten wiedererkennen kann. Oder sich darüber wundern, wie anders damals alles war.
Frank Jöricke: Früher war alles anders: von Dr. Sommer bis Sonntagsbraten – eine Reise zurück in eine wilde Zeit. Yes Publishing, 217 S., geb., 18 €.
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