Kreuzberger Bockbrauerei: Zwangsarbeit für den Endsieg

In Kellern unterhalb der Kreuzberger Bockbrauerei wurden 1945 Elektroden produziert

  • Günter Piening
  • Lesedauer: 4 Min.
Vor 80 Jahren arbeiteten zahlreiche Zwangsarbeiter im Keller unter Bockbrauerei.
Vor 80 Jahren arbeiteten zahlreiche Zwangsarbeiter im Keller unter Bockbrauerei.

Thomas Irmer empfängt die Besuchsgruppe auf dem Brauerei-Gelände an der Kreuzberger Fidicinstraße vor einem gewaltigen Betonbunker. »Dies ist ein Teil der meterdicken Betondecke, die die darunterliegenden Keller vor Bombeneinschlägen schützen sollte. In diesen Kellern wurden in den letzten Kriegsmonaten kriegswichtige Telefunken-Röhren produziert.«

Irmer ist Historiker und Experte für Wirtschafts- und Technikgeschichte der NS-Zeit. 2016 trug er maßgeblich dazu bei, dass die einzigartige Geschichte dieses Ortes erkannt wurde, bevor das Gelände für den Bau von Luxuswohnungen der »Neuen Bockbrauerei« freigeräumt war. Diese Wohnanlage wird direkt am Bunker errichtet. Es ist eine Ansammlung der üblichen einfallslosen mehrgeschossigen Quader, deren 130 Eigentumswohnungen dennoch als »Urbanes Leben mit Flair« beworben werden – zu Preisen von bis zu 5 Millionen Euro.

Von der alten Brauerei ist nur das Schwankhaus geblieben, in dem die Fässer gereinigt (»geschwenkt«) wurden, ein roter Backsteinbau, dessen Zukunft nach dem Verkauf an den Investor ungewiss war. Als eine Bürgerinitiative erfuhr, dass sich in den Kellern der Brauerei in den letzten Kriegsjahren eine Rüstungsfabrik befand, stellte sie den Antrag, Teile des Gebäudes unter Denkmalschutz zu stellen. Thomas Irmer erhielt den Auftrag, den Denkmalwert zu prüfen.

Bis zu Irmers Nachforschungen galten die Keller als eine von vielen unterirdischen Anlagen in Berlin, in die kriegswichtige Produktionen verlagert wurden, nachdem im November 1943 die schweren Luftangriffe auf Berlin begonnen hatten. Die zum AEG-Konzern gehörende Telefunken war damals der größte Hersteller von Elektronenröhren in Europa. Diese Röhren waren von zentraler Bedeutung für die Kriegsführung, sie steuerten Funkgeräte, Peilsender, Radaranlagen und Raketen.

In Berlin baute Telefunken vier Kelleranlagen unter den Tarnnamen »Lore 1« bis »Lore 4«. Von Lore 1, 3 und 4 ist heute kaum noch etwas erhalten, die Keller wurden umgebaut oder abgerissen. Anders bei »Lore 2« in der Bockbrauerei: Sämtliche Keller waren im Originalzustand vollständig erhalten. Und, ebenfalls einzigartig: Die umfangreichen Aktenfunde, die Irmer gemeinsam mit dem Denkmalpfleger Bernhard Kohlenbach zusammentrug, erlauben einen umfassenden Einblick in Planung, Bau und Ausstattung einer unterirdischen Rüstungsfabrik.

Auf Grundlage des Irmer-Gutachtens stellte das Landesdenkmalamt 2016 den Keller unter Schutz, da es sich um »eine authentisch erhaltene Produktionsstätte handelt, in der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingesetzt wurden«. Die Anlage verdeutliche »das verzweifelte Bemühen am Kriegsende, den Untergang mit skrupellosen Mitteln und durch illusorische Aktionen (Produktion für die ›Wunderwaffe V2‹) hinauszuzögern«.

Über eine enge Wendeltreppe geht es hinunter in den Keller. Für den Bau der zwei Meter dicken Betondecke wurden neben deutschen Zivilarbeitern italienische Militärinternierte und »Ostarbeiter« eingesetzt. KZ-Häftlinge aus Sachsenhausen mussten die Keller freiräumen. Ein Speisesaal mit direktem Zugang zum Produktionsbereich wurde eingerichtet, ebenso Toiletten – getrennt nach »Deutsche« und »Ostarbeiter«.

Da die Herstellung empfindlicher Elektroden staubfrei erfolgen musste, wurden große Lüftungsanlagen eingebaut. Alte Fotos zeigen Frauen an langen Tischen, die Elektroden montieren. Rund 300 Menschen arbeiteten hier in Zwölf-Stunden-Schichten – ohne Tageslicht. Es gibt keine Personalakten mehr, aber Irmer geht davon aus, dass die belastendsten und gefährlichsten Arbeiten von Zwangsarbeitern aus Osteuropa verrichtet wurden.

Rund 300 Menschen arbeiteten hier in Zwölf-Stunden-Schichten – ohne Tageslicht.

»Lore 2« war nur wenige Monate in Betrieb. Aufgrund des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels kam es immer wieder zu Verzögerungen beim Bau; der Betrieb konnte erst im Dezember 1944 aufgenommen werden. »Wir warten immer noch auf die Maschine aus Italien«, war der letzte Vermerk, den Thomas Irmer bei seinen Nachforschungen in den Archiven fand.

Nach dem Krieg wurden die Maschinen abtransportiert und die Keller als Weinlager genutzt. Heute sind die Räume leer, Lüftungs- und Heizungsanlagen wurden entfernt, die Farbe an den Wänden ist verblasst, dunkle Flecken deuten auf Feuchtigkeit hin. Nur noch Kabelstränge und einige wenige Originalrelikte erinnern an Rüstungsproduktion. Eine beklemmende Stille erfüllt die kalten Räume. Wie kann daraus ein Ort entstehen, der die Erinnerung an diese Geschichte lebendig hält?

Die Besichtigungsgruppe ist am Ende des Rundgangs angekommen und kehrt zurück ans Tageslicht. Dass die Keller auch künftig öffentlich zugänglich sein sollen, hat die Genossenschaft Am Ostseeplatz eG zugesagt, die Anfang 2025 das Schwankhaus kaufte. Eine nächste Begehung ist für September geplant. Die Diskussion über die künftige Gestaltung dieses »authentischen Ortes« beginnt jedoch erst.

Ebenso wie die Bürgerinitiative Kiez Aktiv, die die Besichtigung organisierte, favorisiert Thomas Irmer im Gespräch mit »nd«, dass die Konzeptentwicklung gemeinsam von Denkmalschützern, Historikern und der Zivilgesellschaft getragen wird. An diesem Ort könne – 80 Jahre nach Kriegsende – ein Raum entstehen, der die Geschichte Berlins als Rüstungsmetropole» insgesamt thematisiert.

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