Kurzsichtigkeit unter Kindern: Der seltene Blick in die Ferne

Kurzsichtigkeit unter Kindern nimmt zu. Ihr Fortschreiten lässt sich aber mit verschiedenen Maßnahmen bremsen

  • Angela Stoll
  • Lesedauer: 6 Min.
15 Prozent der Kinder in Deutschland am Ende der Grundschulzeit sind kurzsichtig.
15 Prozent der Kinder in Deutschland am Ende der Grundschulzeit sind kurzsichtig.

Vor Jahrzehnten war eine »Brillenschlange« auf dem Schulhof noch etwas Exotisches. Inzwischen gehören Sehhilfen aller Art längst zum Familienalltag: Bis zum Ende der Grundschulzeit sind hierzulande etwa 15 Prozent aller Kinder kurzsichtig. Experten fürchten, dass die Zahl angesichts intensiver Smartphone-Nutzung weiter steigt. In anderen Regionen der Welt ist Kurzsichtigkeit bereits stark auf dem Vormarsch. Laut Deutscher Ophthalmologischer Gesellschaft, der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaft für Augenheilkunde, sind in manchen asiatischen Metropolen bereits über 80 Prozent aller junger Menschen kurzsichtig. Das ist vor allem deshalb fatal, da starke Kurzsichtigkeit das Risiko für schwere Augenerkrankungen wie das Glaukom erhöht. Tatenlos zusehen müssen Eltern nicht. »Kurzsichtigkeit bei Kindern lässt sich zwar nicht stoppen, aber in den meisten Fällen bremsen«, sagt Optiker und Optometrist Stephan Degle vom Verein Kuratorium Gutes Sehen. Dazu gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten – aber nicht alle sind pauschal zu empfehlen.

Ob ein Kind kurzsichtig wird, hängt neben den Genen stark von den Sehgewohnheiten ab. An der alten Grundregel, dass zu viel Lesen die Augen »verdirbt«, ist tatsächlich etwas dran – schlimmer als Bücher sind allerdings digitale Geräte, allen voran Smartphones. »Eigentlich ist unser Sehsystem auf die Ferne ausgerichtet«, sagt der Augenarzt Norbert Pfeiffer, Vorstandsmitglied der Stiftung Auge. Für Steinzeitmenschen war es überlebenswichtig, auf weite Distanzen gut sehen zu können.

Nahsicht bedeutet Arbeit

Um auf Objekte in der Nähe zu fokussieren, muss sich der Muskel, an dem die Linse aufgehängt ist, zusammenziehen, sodass die Linse eine kugelige Form annimmt. Dadurch wird das Bild, das nah am Auge ist, auf der Netzhaut scharf abgebildet. »Das ist mit Arbeit verbunden. Um es sich leichter zu machen, passt sich das Auge mit der Zeit an und wächst in die Länge«, sagt Pfeiffer. Zu einer solchen Adaption kann es bis ins junge Erwachsenenalter kommen. Sie macht es leichter, in die Nähe zu sehen, doch kann das Auge nicht mehr auf Dinge in der Ferne scharfstellen – es liegt also eine Kurzsichtigkeit vor. »Je mehr Naharbeit man macht, umso stärker wirkt sich das aus.« Damit meint Pfeiffer alle Distanzen unter fünf Metern. Besonders fatal seien Smartphones, da das Auge hier auf einen sehr kleinen Abstand scharf stellen muss.

»Eigentlich ist unser Sehsystem auf die Ferne ausgerichtet.«

Norbert Pfeiffer Augenarzt

Eine aktuelle, im Fachjournal »Jama Network Open« veröffentlichte Metastudie, die 45 Studien einschloss, ergab, dass das Risiko für Kurzsichtigkeit bei Kindern dosisabhängig steigt, sobald sie mehr als eine Stunde pro Tag am Bildschirm verbringen. Ab vier und mehr Stunden täglich flacht die Kurve wieder ab. Um diese Entwicklung zu bremsen, rät Pfeiffer zu zwei Dingen: die Bildschirmzeit von Kindern zu limitieren und dafür zu sorgen, dass sie möglichst viel Zeit im Freien verbringen – »nämlich mindestens zwei Stunden pro Tag«. Warum es der Kurzsichtigkeit entgegenwirkt, wenn Kinder draußen spielen, sei unklar: »Wahrscheinlich liegt das daran, dass man den Blick in die Ferne schweifen lässt«, sagt Pfeiffer. Eine Rolle könne aber auch Dopamin spielen, das durch Licht ausgeschüttet werde. »Man weiß, dass Dopamin das Wachstum des Augapfels begrenzt.«

Neben diesen einfachen Verhaltensmaßnahmen gibt es Medikamente sowie spezielle Brillen und Kontaktlinsen, die möglicherweise das Längenwachstum des Augapfels hemmen. So sollen Tropfen mit stark verdünntem Atropin, dem Gift der Tollkirsche, das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit bremsen – wobei der Wirkmechanismus nicht ganz klar ist. »Das Mittel bringt nur etwas, solange man es anwendet«, sagt Pfeiffer. »Sobald man es absetzt oder unregelmäßig nimmt, holt das Auge alles wieder auf.« Es kommt hinzu, dass die Anwendung für Kinder unangenehm sein kann: Die Augen werden lichtempfindlich, zudem sieht man in der Nähe zeitweise verschwommen. Auch Allergien können entstehen.

Verschiedene Korrekturmöglichkeiten

Daneben sind spezielle Brillengläser auf dem Markt, die Kurzsichtigkeit korrigieren und zugleich deren Voranschreiten entgegenwirken sollen. Zum Beispiel gibt es Multisegment-Gläser, bei denen die zentrale Zone für scharfes Sehen in der Ferne sorgt. Gleichzeitig bewirken kleine Linsen im Glas, dass das einfallende Licht vor der Netzhaut gebündelt wird und eine zweite Bildebene entsteht. Das soll bewirken, dass das Längenwachstum nicht angeregt wird. Nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren multifokale Kontaktlinsen, die in verschiedenen Ausführungen angeboten werden. Das Forschungsnetzwerk Cochrane kommt in einer aktuellen Metastudie zu dem Schluss, dass der Nutzen dieser Lösungen noch ungewiss sei. Am wirksamsten hätten sich in Kurzzeitstudien harte Orthokeratologie-Kontaktlinsen gezeigt, die nur nachts getragen werden. Sie modellieren die Hornhaut in dieser Zeit, sodass kurzsichtige Kinder tagsüber ohne Sehhilfe scharf sehen können. Langfristig kann dadurch das Längenwachstum des Augapfels gebremst werden. »Damit erzielt man sehr gute Effekte«, sagt Degle. Die Frage ist aber, ob Eltern und Kinder bereit sind, sich darauf einzulassen. Wichtig ist nämlich, auf Hygiene und Pflege zu achten. Sonst kann es nach Informationen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen zu Entzündungen kommen – abgesehen davon könnten die Linsen unangenehm sein und die Augen reizen.

Nicht alle Behandlungen zu empfehlen

Immerhin ist man sich in der Fachwelt einig, dass eine sogenannte Unterkorrektur nicht sinnvoll ist: Früher glaubte man, Kinder würden von einer Brille profitieren, die ihre Myopie (Kurzsichtigkeit) nicht komplett, sondern etwas zu wenig ausgleicht. Das ist laut Degle »kompletter Unsinn«. Wie man inzwischen weiß, fördert die Maßnahme Kurzsichtigkeit.

Tipps für Eltern

Sehtests: Es ist wichtig, Kurzsichtigkeit möglichst früh zu korrigieren. Danach sollte das Kind mindestens einmal pro Jahr einen Sehtest machen.
Weniger Zeit am Handy: Es muss keine komplette digitale Abstinenz herrschen. Schädlich sind vor allem Smartphones und Tablets mit kleinen Bildschirmen, die über einen längeren Zeitraum genutzt werden. Sitzt das Kind an einem großen Computerbildschirm, der in einiger Entfernung aufgestellt ist, ist das bereits eine große Verbesserung.
Abstand: Bücher und elektronische Ge­räte sollten nicht zu nah ans Auge gehalten werden. Der Mindestabstand sollte etwa 30 Zentimeter betragen.
Pausen: Wer viel Zeit mit Lesen und Recherchieren verbringt (etwa weil ein Referat ansteht), sollte immer wieder Pausen machen und den Blick in die Ferne schweifen lassen.
Freizeit: Kinder sollten mindestens zwei Stunden pro Tag an der frischen Luft sein – optimalerweise verbringen sie die Zeit mit Spiel und Sport.

Auch von der Rotlicht-Therapie, bei der die Augen der Kinder mit rotem Laserlicht bestrahlt werden, rät Degle ab. Der Ansatz hatte von sich reden gemacht, nachdem eine chinesische Studie bei Kindern, die zweimal täglich für wenige Minuten bestrahlt worden waren, eine Verlangsamung der Kurzsichtigkeit festgestellt hatte. Eine neue Untersuchung, deren Ergebnisse im April im Journal »Jama Ophthalmology« erschienen sind, hat allerdings gezeigt, dass eine längerfristige Anwendung möglicherweise die Netzhaut schädigen kann. »Die Bestrahlung würde ich zum derzeitigen Zeitpunkt keinem Kind empfehlen«, betont Degle.

Überhaupt gibt es aus seiner Sicht keine für alle gleichermaßen passende Lösung, da jeder Fall unterschiedlich ist und ein anderes Vorgehen nötig macht. »Entscheidend ist zunächst eine sorgfältige Untersuchung und Beurteilung, um welche Art der Myopie es sich handelt. Dann erst kann man sagen, welche Lösungen infrage kommen.« Mitunter bieten sich auch kombinierte Maßnahmen an, um das Voranschreiten der Kurzsichtigkeit zu verlangsamen. Am häufigsten ist in Deutschland die »Schul-Myopie«, die etwa ab dem achten Lebensjahr einsetzt – manchmal entwickelt sie sich aber erst im Jugendalter, also ab 14 Jahren. Immerhin ist in der Regel mit Mitte 20 Schluss: Danach nimmt Kurzsichtigkeit meist nicht mehr zu.

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