Pulp: Die Schönheit der verpassten Chancen

Pulp sind zurück und wie: »More« ist ein Album im Geiste von »Different Class«

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 3 Min.
Pulp in Manchester in diesem Juni
Pulp in Manchester in diesem Juni

Als ich Mitte 20 war, hoffte ich, all meine Freunde würden ihren Weg machen. Hinter diesem edlen Wunsch stand ein nicht ganz so selbstloser Gedanke: »Wenn sie es schaffen, schaff ich es auch.«

Natürlich funktioniert das Leben so nicht. Wir verlieben uns in die falschen Menschen und treffen idiotische Entscheidungen, die schnurstracks in die Sackgasse führen. Nicht jeder kriegt danach die Kurve. Es folgt mit Mitte 40 der Katzenjammer. Hochtrabend mag man das »Midlife-Crisis« nennen, aber eigentlich ist es nur das Gefühl »Ich hatte mir mein Leben irgendwie anders vorgestellt«.

Jarvis Cocker hat in dieser Hinsicht nichts zu befürchten. Er war schon immer desillusioniert. Sein Leben war von Beginn an eine Krise. Seine deutsche Mutter zwängte ihn als Kind in bayerische Lederhosen – und das in der englischen Industriestadt Sheffield. Seit ich das weiß, braucht mir niemand mehr zu erzählen, er hätte eine schwere Kindheit gehabt.

Plattenbau

Das Album der Woche. Weitere Texte unter dasnd.de/plattenbau

Und danach wurde es nicht besser. Als Teenager gründete er 1978 die Band Pulp. Es folgten 16 Jahre der Bedeutungslosigkeit. Erst 1994 gelang ihm im Zuge des Britpop-Hypes der Durchbruch. Psychologisch gesehen zu spät – aus ihm sollte kein Sonnyboy mehr werden. Stattdessen nutzte Jarvis Cocker den Ruhm, um auf »Different Class« (1995) und »This Is Hardcore« (1998) all den Schmerz rauszulassen, der sich im Lauf der Jahrzehnte angesammelt hatte. Danach schien es ihm besser zu gehen. »We Love Life« (2001), das vorerst letzte Pulp-Album, war geradezu idyllisch. Cocker schien mit sich halbwegs im Reinen zu sein.

Die nachfolgenden Solo- und Projektalben bestätigten diesen Eindruck. Jarvis Cocker tat das, worauf er gerade Lust hatte, zum Beispiel französische Chansons originalgetreu nachzusingen. »Ist ja schön, dass du deinen Spaß hast«, dachten wir Pulp-Fans der 90er insgeheim, »aber könnten die Songs nicht einen Tick aufregender sein?«

Unser Wunsch wurde erhört. »More« klingt wie verschollen geglaubte Aufnahmen aus »Different Class«-Zeiten (und tatsächlich beruhen einige der Stücke auf Demos aus längst vergangenen Pulp-Tagen). Es ist alles da, was die Band einst groß gemacht hat: aufwühlende Melodien in Moll, eine spannungsreiche Produktion (zurückgenommen in den Strophen, breitwandig in den Refrains) und natürlich Jarvis Cockers Gesang, der verbindet, was sich eigentlich nicht verbinden lässt: Coolness und Schmerz. Abgeklärter hat schon damals niemand gelitten.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Jetzt ist er 61, und die Krise hat ihn wieder. Denn in seinem Alter denkt man schon mal darüber nach, dass einem die Zeit davonrennt – »es ist fast Sonnenuntergang, und wir haben noch nicht zu Mittag gegessen« (»it’s nearly sunset and we haven’t had lunch yet«) – und dass man mehr aus seinem Leben hätte machen können. »Grown ups« ist eines der bittersten Lieder, die je über das Erwachsenwerden geschrieben wurden. Cocker mag nicht glauben, dass ein Bekannter in die Nähe der Autobahn gezogen ist, um besser pendeln zu können (»he moved near the motorway ’cause it was good for commuting«). In solchen Bildern lag schon immer die hohe Kunst seiner Texte. Doch ihre volle Wirkung entfalten seine Zeilen dadurch, wie er sie singt und schmachtet oder manchmal nur spricht und haucht.

Das gilt natürlich auch für »Tina«, die Geschichte einer Beziehung, die nur in Gedanken stattfindet. Ein bekanntes Leitmotiv, von dem schon »Disco 2000« lebte. In Jarvis Cockers Liedern wimmelt es von verpassten Chancen. Wie im richtigen Leben. Dieses Album nicht zu hören, wäre eine weitere.

Pulp: More (Rough Trade)

- Anzeige -

Andere Zeitungen gehören Millionären. Wir gehören Menschen wie Ihnen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Dank der Unterstützung unserer Community können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen ins Licht rücken, die sonst im Schatten bleiben
→ Stimmen Raum geben, die oft zum Schweigen gebracht werden
→ Desinformation mit Fakten begegnen
→ linke Perspektiven stärken und vertiefen

Mit »Freiwillig zahlen« tragen Sie solidarisch zur Finanzierung unserer Zeitung bei. Damit nd.bleibt.