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Gaza: »Testfeld für militarisierten Humanitarismus«
Pietro Stefanini von der Universität Edinburgh spricht über das von Israel neu installierte System humanitärer Hilfe im Gazastreifen
Sie befassen sich wissenschaftlich mit humanitären Studien, Siedlerkolonialismus und antikolonialem Widerstand. In einer Analyse des Gaza-Kriegs sprechen Sie in dem Zusammenhang von »humanitärer Camouflage«. Was meinen Sie damit?
Der Begriff bezieht sich auf den strategischen Einsatz humanitärer Rhetorik, um militärische oder politische Ziele zu verschleiern. In Gaza ist dieser Mechanismus mit beispielloser Deutlichkeit sichtbar. Israel verzerrt die Schutzbestimmungen des Völkerrechts, indem es Begriffe wie »Evakuierung«, »Sicherheitszonen« oder »humanitäre Korridore« verwendet, um Zwangsumsiedlungen zu legitimieren. Unter dem Deckmantel der Fürsorge wird eine Politik verfolgt, die auf die Zerstörung Gazas abzielt. Humanitäre Sprache wird so zum Deckmantel für genozidale Gewalt.
Welche Rolle spielt dabei die Gaza Humanitarian Foundation – kurz GHF?
Sie ist eine privat organisierte, aber politisch hochsensible Initiative mit Sitz in der Schweiz. Sie wurde maßgeblich von israelischen Akteuren gegründet, offenbar in enger Abstimmung mit Unterstützern aus den USA. Ihr derzeitiger Chef ist der Trump nahestehende evangelikale Geschäftsmann Johnnie Moore Jr. Offiziell soll die GHF humanitäre Hilfe für den Gazastreifen organisieren, strukturell ist sie jedoch eng mit israelischen Sicherheitsinteressen verflochten. In Wirklichkeit ersetzt sie nach und nach bestehende multilaterale Akteure wie das Palästinenserhilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA) oder das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) – mit dem Ziel, die Kontrolle über die Verteilung von Hilfsgütern, den Zugang dazu und Sicherheit zu erlangen. Dadurch entsteht ein System, in dem Hilfe strategisch instrumentalisiert wird. Durch diese Konstruktion versucht Israel, sich seiner rechtlichen Verantwortung als Besatzungsmacht zu entziehen – ohne dabei vollständig auf die Legitimität zu verzichten, die sich aus humanitären Maßnahmen ergibt.
Pietro Stefanini hat einen Doktortitel in Politikwissenschaft von der Universität Edinburgh, wo er am Institut für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen sowie am Institut für Islam- und Nahoststudien lehrt. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen kritische humanitäre Studien, Imperium und Siedlerkolonialismus sowie antikolonialer Widerstand. Mit Stefanini sprach Cyrus Salimi-Asl.
Bedeutet das, dass Hilfe nicht mehr im traditionellen Sinne neutral ist?
Genau. Traditionelle humanitäre Hilfe basiert auf Prinzipien wie Neutralität, Unabhängigkeit und Menschlichkeit. Wenn jedoch eine der Kriegsparteien – in diesem Fall Israel – selbst über Hilfslieferungen, Verteilung und Zugang entscheidet, wird dieser Anspruch auf Neutralität de facto außer Kraft gesetzt. Hilfe wird zu einer geopolitischen Ressource, die dazu dient, Gebiete zu beeinflussen und Menschen zu kontrollieren. Das widerspricht den Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts.
Wie äußert sich das im Alltag der Menschen in Gaza?
Vor dem Krieg fuhren täglich rund 500 Lastwagen mit Hilfsgütern nach Gaza. Derzeit sind es – trotz der katastrophalen Lage – oft nur noch wenige Dutzend. Gleichzeitig inszenieren Israel und seine Partner eigene Hilfsaktionen wie Luftabwürfe, die symbolisch sind, sonst aber wirkungslos. Dieses Spektakel schafft eine perverse Situation: Israel verursacht durch Blockaden und Angriffe eine humanitäre Krise – und stellt sich dann mit minimaler Hilfe als Retter dar. Das ist ein PR-Mechanismus.
Es gibt regelmäßig Berichte über tödliche Zwischenfälle bei Hilfslieferungen. Können diese überprüft werden?
Ja. Ein detaillierter Bericht von CNN dokumentiert beispielsweise mit Videoaufnahmen, Augenzeugenberichten und Analysen der Schussfrequenz, dass israelische Soldaten während eines Vorfalls am 1. Juni das Feuer auf wartende Zivilisten eröffneten. Mindestens 31 Menschen wurden getötet. Besonders schockierend: Das Militär sprach zunächst von einer »Stampede«, dann von Warnschüssen. Untersuchungen zeigen jedoch eindeutig, dass es gezielte Schüsse aus Panzern und Maschinengewehren gab – gerichtet auf eine unbewaffnete, hungernde Menschenmenge. Hilfe wird zur Falle.
Seit dem 27. Mai wurden laut Angaben des Gesundheitsministeriums des Gazastreifens mindestens 583 Palästinenser getötet und 4186 verletzt, während sie an Verteilstellen der GHF auf Lebensmittel warteten. Der Leiter der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, und die NGO Ärzte ohne Grenzen meldeten am Freitag ebenfalls 500 Todesfälle. Eine am selben Tag veröffentlichte Untersuchung der israelischen Zeitung »Haaretz« ergab, dass Offiziere und Soldaten der israelischen Armee den Befehl erhielten, auf unbewaffnete Menschen in der Nähe von Verteilzentren zu schießen, selbst wenn keine Gefahr bestand. Die Militärstaatsanwaltschaft hat daraufhin eine Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen gefordert.
Die Aussagen israelischer Soldaten bestätigen nur, was palästinensische Überlebende uns die ganze Zeit erzählt haben: dass sie regelmäßig mit scharfer Munition beschossen wurden, obwohl sie unbewaffnet waren und die militarisierten Verteilzentren aufsuchten, zu denen sie von der israelischen Armee geschickt worden waren. Bemerkenswert ist, dass die GHF, die das bestehende humanitäre System ersetzen soll, nicht nur darauf ausgelegt ist, die Nahrungsmittelknappheit aufrechtzuerhalten, da die bereitgestellten Mengen den Bedarf in einer akuten Hungersnot nicht decken, sondern auch eine Struktur schafft, die die Voraussetzungen für Massenmorde schafft. Die Überfüllung und das Chaos schaffen das perfekte Szenario für Israel, um das Offensichtliche zu verschleiern: dass seine Streitkräfte unbewaffnete Palästinenser ins Visier nehmen und erschießen, die ihren Familien am Rande der Vernichtung eine Lebensader zu bieten versuchen.
Gibt es Präzedenzfälle für solch ein System der Kontrolle?
Ja, viele. Das israelische Militär hat jahrzehntelang Strukturen aufgebaut, um die palästinensischen Gebiete zu verwalten – nicht nur militärisch, sondern auch zivil. Die COGAT-Behörde – (Koordinator für Regierungsaktivitäten in den Gebieten) – ist seit 1967 für alle Aspekte des zivilen Lebens zuständig: Baugenehmigungen, Importe, Bewegungsfreiheit. Parallel zur Besatzung präsentiert sie sich also als »Koordinatorin humanitärer Aktivitäten«. Das ist Teil der Strategie: Hilfe wird notwendig, um die Interessen der kolonialen Besatzung voranzutreiben: die einheimische Bevölkerung zu kontrollieren und von ausländischer Hilfe abhängig zu halten. Wir beobachten dies auch in anderen Kriegen. Bemerkenswert ist, dass Militärs und private Unternehmen die Hilfe nicht nur zur Linderung von Leid einsetzen, sondern auch zur Kontrolle der Zivilbevölkerung und zur Förderung strategischer Kriegsziele. So hat beispielsweise in Südsudan ein privates Unternehmen unter der Leitung von Militärveteranen – dessen erste Mission darin bestand, über den temporären Pier der USA vor der Küste Gazas Hilfe zu leisten – kürzlich damit begonnen, Lebensmittel in Gebiete abzuwerfen, die von Kämpfen verwüstet sind und in die die südsudanesische Regierung Zivilisten umsiedeln will.
Welche Rolle spielen die sogenannten »humanitären Zonen«?
Die bekannteste ist Al-Mawasi im Süden des Gazastreifens. Diese Zonen sollen offiziell sichere Zufluchtsorte sein – in Wirklichkeit sind sie jedoch überfüllt, unterversorgt und isoliert. Sie dienen dazu, große Teile der Bevölkerung aus dem Norden zu vertreiben. Als Al-Mawasi zur »humanitären Zone« erklärt wurde, gab es dort keine ausreichende Infrastruktur für medizinische Versorgung und Lebensmittel, und es gab kein fließendes Wasser. Nun ist es der größte Sammelpunkt für Vertriebene. Es handelt sich um eine klassische Logik kolonialer Bevölkerungsumsiedlung, getarnt als Fürsorge. Anstatt eine vorbeugende Maßnahme zum Schutz von Zivilisten während des Krieges zu sein, hat die von Israel ausgewiesene »humanitäre Zone« sogar dazu gedient, extreme Gewalt auszuüben, da Palästinenser auch nach ihrer Umsiedlung in diese Gebiete systematisch ins Visier genommen wurden.
Sie vergleichen dies mit britischen Internierungslagern in Afrika. Ein heftiger Vorwurf.
Aber kein übertriebener, der Vergleich ist historisch begründet. Während des britischen Kolonialkrieges in Kenia wurden sogenannte »geschützte Dörfer« eingerichtet – Zonen, in denen die Zivilbevölkerung unter Kontrolle gebracht wurde, um den bewaffneten Widerstand zu schwächen. Es ging nie um Schutz, sondern um Trennung, Kontrolle und Isolation. In Gaza sehen wir eine ähnliche Struktur: konzentrierte Zonen mit eingeschränktem Zugang, Überwachung und völliger Abhängigkeit von Lieferungen der Besatzungsmacht oder ihrer Partner.
Am vergangenen Donnerstag genehmigten die USA die erste direkte finanzielle Unterstützung für die GHF. Ein Sprecher des Außenministeriums sprach von 30 Millionen US-Dollar. Welche Rolle spielen die Vereinigten Staaten in diesem System?
Eine zentrale Rolle. Die GHF ist praktisch ein israelisch-amerikanisches Projekt. Die Finanzierung ist undurchsichtig, aber die politische Agenda ist klar: Das Ziel ist es, das traditionelle multilaterale humanitäre System – insbesondere die Uno – zu umgehen. Stattdessen wird ein neues Modell etabliert: militarisiert, privatisiert und strategisch kontrollierbar. Die Luftabwürfe der Biden-Ära, neue Seekorridore und die Besetzung der GHF-Führung mit einem Trump-nahen Evangelikalen zeigen deutlich, in welche Richtung die Dinge gehen.
Welche langfristigen Ziele werden mit diesen Maßnahmen verfolgt?
Die Ineffektivität der GHF als Hilfsapparat ist kein Versagen, sondern Teil der Strategie: das palästinensische Volk nach Süden zu vertreiben und ein Umfeld zu schaffen, in dem es jede Hoffnung auf ein Überleben in Gaza verliert. Innerhalb der israelischen Regierung gibt es längst Stimmen, die offen von einer »freiwilligen Umsiedlung« der Bevölkerung Gazas sprechen. Diese Idee war bereits in früheren »Friedensplänen« der USA enthalten – wie beispielsweise Trumps »Deal des Jahrhunderts«.
Welche wirtschaftlichen Interessen stehen hinter all dem?
Ein zentrales Thema ist die zunehmende Privatisierung humanitärer Hilfe. Unternehmen liefern Lebensmittel, sorgen für sicheren Transport und bieten Technologien an – oft in enger Verbindung mit der israelischen Wirtschaft. Es gibt Hinweise darauf, dass bestimmte Hilfspakete bewusst so konzipiert sind, dass sie vor Ort unbrauchbar sind, aber dennoch profitabel hergestellt werden können – wie beispielsweise Nudeln in einem Gebiet ohne Wasser, Strom oder Kochmöglichkeiten. Generell aber wird Hilfe zu einer Ware, deren Markt nur aufgrund von Zerstörung existiert.
Wie beurteilen Sie die Rolle traditioneller internationaler Organisationen in dieser Struktur?
Es ist ein Dilemma. Organisationen wie die UNRWA leisten wichtige Hilfe, können aber auch dazu beitragen, dass sich Israel seiner Verantwortung entzieht. Gleichzeitig erleben wir derzeit, wie diese Akteure systematisch zerschlagen werden. Das entstandene Vakuum wird mit kontrollierten, oft militärisch verbundenen Strukturen wie der GHF gefüllt. Dies schafft einen gefährlichen Präzedenzfall: Eine neue humanitäre Verwaltungsstruktur wird zur Kolonisierung des Gazastreifens genutzt, ohne dass die bestehenden internationalen humanitären Organisationen dabei eine Rolle spielen. Dies würde die Gefährdung der Palästinenser deutlich erhöhen.
Der Leiter des UNRWA, Philippe Lazzarini, erwägt die Auflösung seiner Organisation, weil sie ihr Mandat nicht mehr erfüllen könne, sagte kürzlich der »Welt«. Was bedeutet das alles für die Zukunft des humanitären Systems?
Wenn die UNRWA – die Institution mit der größten Kapazität für die Verteilung humanitärer Hilfe – in diesem Moment aufgelöst würde, hätte dies katastrophale Folgen für das palästinensische Volk. Aber es würde auch das internationale humanitäre System neu gestalten. Die Zerstörung des Gazastreifens scheint zu einem Testfeld für einen neuen militarisierten Humanitarismus geworden zu sein, was eine weitere Erosion der liberalen, auf Regeln basierenden Ordnung und eine Verfestigung des von den USA angeführten imperialen und kapitalistischen Systems signalisiert.
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