Orchestriertes Chaos im Gazastreifen

Benjamin Netanjahu setzt auf kriminelle Banden

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein palästinensischer Junge sucht zwischen den Trümmern der Jaffa-Schule in Gaza-Stadt nach wiederverwertbaren Gegenständen.
Ein palästinensischer Junge sucht zwischen den Trümmern der Jaffa-Schule in Gaza-Stadt nach wiederverwertbaren Gegenständen.

Die Zahl ist schockierend: Auf mehr als 75 000 beziffere ein Team aus internationalen Wissenschaftlern und dem unabhängigen Think Tank »Palestinian Center for Policy and Survey Research« die Zahl der Menschen, die seit Kriegsbeginn im Gazastreifen getötet worden seien, so ein Bericht der israelischen Zeitung »Haaretz«. Mehr als die Hälfte davon seien Kinder, Frauen, Jugendliche, insgesamt fast vier Prozent der Gesamtbevölkerung – mehr als in anderen Konflikten der vergangenen Jahrzehnte.

Besonders im Fokus stehen derzeit die Verteilzentren einer Organisation namens »Gaza Humanitarian Foundation« (GHF): Immer wieder gibt es Berichte, dass israelische Soldaten das Feuer auf Palästinenser eröffnen, die dort Hilfe suchen. »Es herrscht dort absolutes Chaos«, berichtet Abdullah Schweiki, der aus Gaza-Stadt stammt, bis zum Kriegsbeginn ein Hotel führte. Heute ist er arbeitslos, »und selbst wenn ich Geld hätte, gäbe es nicht wirklich etwas, was ich kaufen könnte«. Die Menschen sind vollständig abhängig von Hilfsgütern.

Israel hat die UNRWA kaltgestellt

Und die kommen nun noch seltener, als das seit Kriegsbeginn im Oktober 2023 ohnehin schon der Fall war. Der Grund: Israels Regierung wirft UNRWA, dem 1949 gegründeten UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge vor, von der Hamas unterwandert zu sein; UNRWA-Mitarbeiter seien am Massaker in Süd-Israel am 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen. Deshalb hat Israels Regierung den Behörden den Kontakt zu UNRWA verboten; die USA als größter Geldgeber haben die Zahlungen eingestellt. Die Folge: Eine Lücke von 200 Millionen US-Dollar, während allein schon für Löhne 60 Millionen US-Dollar gebraucht werden, rechnete UNRWA-Chef Philippe Lazzarini vergangene Woche bei einem Besuch in Berlin vor. Die Bundesregierung ist derzeit die größte verbliebene Geldgeberin.

Die GHF dagegen ist eine recht ominöse Organisation: Im Februar 2025 wurde sie im US-Bundesstaat Delaware registriert – und im schweizerischen Genf, wo sie ihre Aktivitäten mittlerweile wieder eingestellt hat. Wer sie finanziert, dazu gibt es keine Angaben. Laut dem Nachrichtenportal »Times of Israel« erklärte Regierungschef Benjamin Netanjahu Mitte Juni, die Organisation gehe auf eine israelische Initiative zurück.

Nähe zu US-amerikanischen Machtzirkeln

Allerdings tauchen im Umfeld der GHF auch Personen auf, die dem US-Auslandsgeheimdienst CIA direkt oder indirekt zuzurechnen sind, neben Leuten, die US-Präsident Donald Trump nahestehen. So wird GHF seit dem 3. Juni von dem evangelikalen Geschäftsmann Johnnie Moore Jr. geleitet, einem Unterstützer Trumps. Sein Vorgänger war zurückgetreten, weil er nicht glaubte, die Ziele der Organisation umsetzen und gleichzeitig die Einhaltung humanitärer Prinzipien garantieren zu können. Bewacht werden die vier GHF-Verteilzentren im Gazastreifen von Mitarbeitern privater Sicherheitsdienste mit Sitz in den USA.

»Netanjahu ist eine Gefahr für die nationale Sicherheit.«

Jair Golan Chef der Partei Die Demokraten

Seitdem die Arbeit am 27. Mai aufgenommen wurde, sind nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen bis zu 500 Menschen erschossen worden. Ende Juni berichtete »Haaretz«, Soldaten hätten den Befehl erhalten, das Feuer zu eröffnen, um Palästinenser von den Hilfszentren fernzuhalten. Mittlerweile soll auch die Militärstaatsanwaltschaft Ermittlungen aufgenommen haben. Schweiki erzählt am Telefon, dass die Mitarbeiter der Verteilzentren mit der Situation komplett überfordert seien: Viele sprächen nicht einmal Arabisch. Die meisten hätten auch ganz offensichtlich keine Erfahrung mit der Verteilung von Hilfsgütern.

Der Feind des Feindes ist Israels Freund

Mehrfach gerieten die Verteilzentren aber auch ins Fadenkreuz des bewaffneten Flügels der Hamas: Mitte Juni geriet ein Bus unter Beschuss; zwölf Menschen starben. Der Hamas zufolge gehörten die Opfer einer mit der Hamas verfeindeten Miliz an, die von Jasser Abu Schahab geführt wird, der von den ägyptischen Behörden und der Palästinensischen Autonomiebehörde mit Drogenhandel und dem »Islamischen Staat« in Verbindung gebracht wird.

Ende Mai hatten israelische Medien erstmals berichtet, dass Israels Militärs Milizen wie jene von Schahab mit Waffen ausrüstet. Kurz darauf erklärte Netanjahu in einem Online-Video: »Auf Anraten der Sicherheitsdienste haben wir Clans aktiviert, die gegen die Hamas sind. Was ist daran falsch?« Jair Golan, Chef der linksliberalen Partei Die Demokraten und ehemaliger Generalmajor reagierte wie viele fassungslos: »Netanjahu ist eine Gefahr für die nationale Sicherheit«, schrieb er bei X (vormals Twitter). Doch Israels rechtskonservative Regierung scheint dennoch an diesem Plan festzuhalten.

Was kommt nach dem Krieg?

Was bei alledem völlig fehlt, ist jede Form von Vision für die Zukunft: Im Hintergrund wird weiterhin über einen Waffenstillstand verhandelt, wobei auch dieser Teil des Krieges in den vergangenen Tagen eine eigentümliche Wendung genommen hat. US-Präsident Trump forderte öffentlich, die Korruptionsprozesse gegen Netanjahu müssten eingestellt werden: »Es ist ein WAHNSINN was die außer Kontrolle geratenen Staatsanwälte Bibi Netanjahu antun«, schrieb er bei X, woraufhin sich Netanjahu bedankte. Kurz darauf verknüpfte Trump dann die US-Hilfen direkt mit den seit 2019 laufenden Korruptionsprozessen. Netanjahus Parteifreunde verzückte dies natürlich. Als Netanjahus Regierung jedoch einst versuchte, die Justiz umzubauen, gingen viele Wochen lang Hunderttausende auf die Straßen. Die Reform verschwand daraufhin zum größten Teil in der Schublade. Nun wird Trumps Forderung vor allem als »Bestechungsversuch« gewertet, so ein Kommentator im öffentlich-rechtlichen Radio: Tausche Waffenstillstand gegen Anklage, so die Vermutung.

Doch auch nach einem Frieden wird das Ende des Leids noch weit entfernt sein: Der größte Teil der Gebäude im Gazastreifen ist zerstört. Vor allem aber könnte nun bald der Punkt erreicht sein, an dem das Wasser völlig ungenießbar geworden sein wird. Bereits vor Kriegsbeginn waren nach WHO-Schätzungen nur noch rund vier Prozent unbelastet.

- Anzeige -

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.