- Sport
- Fußball-EM der Frauen
Den besseren Fußball gibt es in der Schweiz
Die Europameisterschaft der Frauen bietet mehr Nachhaltigkeit und ehrlicheren Sport
Die Anfänge, Giulia Gwinn erinnert sich noch mit einigem Unbehagen, waren nicht einfach. Als kleines Kind am Bodensee wollte auch sie Fußball spielen. »Alle standen auf der Liste und bei mir – ich war das einzige Mädchen – stand nicht mal mein Name. Ich wurde nicht einmal nach meinem Namen gefragt, sondern da stand einfach nur ›das Mädchen‹«, erzählt die 25-Jährige in der ARD-Doku »Shootingstars«. Geringschätzung spürte die heutige Kapitänin der deutschen Fußballerinnen auch noch nach der EM 2022, als sie von Moderator Thomas Gottschalk in der Sendung »Wetten, dass…« als »Giuliana« Gwinn begrüßt wurde.
Vor der Europameisterschaft der Frauen, die an diesem Mittwoch in der Schweiz angepfiffen und am 27. Juli mit dem Finale in Basel enden wird, ist der Name Giulia Gwinn vielen Fußballfans geläufig. Sie hat eine charmante Art und ist echt dabei. Sie kann ihre Haltung vertreten, ohne zu belehren. Und sie ist eine der weltbesten Verteidigerinnen. »Wer sich wegduckt, bewirkt nichts«, erklärt Gwinn. »Der Frauenfußball wäre heute nicht da, wo er ist, wenn nicht viele vor uns den Mut gehabt hätten, laut zu sein, ihre Meinung zu äußern – auch wenn das mal nicht gut ankommt.«
Gegenmittel gegen den Fußball-Gigantismus
In den nächsten Wochen ist den Fußballerinnen die Aufmerksamkeit gewiss. Und während bei den Männern die meisten Formate abseits der Bundesliga immer weiter ausufern, weil sie wie die gerade in den USA laufende Klub-WM unnötig aufgebläht sind, hat die EM der Frauen ihren sympathischen, teils provinziellen Charakter noch nicht verloren. Der erste deutsche Spielort St. Gallen für das Auftaktspiel am Freitag gegen Polen hat gerade mal 76 000 Einwohner. Ein kompaktes, übersichtliches Turnier mit 16 Teams, verteilt auf vier Gruppen, ist genau das, was den Fußball früher so anziehend gemacht hat. Eine Frauen-EM ist (noch) ein liebenswertes Kleinod, das als Gegenmittel zum Gigantismus taugt.
Der europäische Fußballverband Uefa verdient mit seinem wichtigsten Frauenturnier immer noch kein Geld. Die zuständige Direktorin, die frühere Weltfußballerin Nadine Keßler, verriet, der Verband werde wohl mehr als 30 Millionen draufzahlen müssen. Dafür zählen auch andere Werte, etwa Nachhaltigkeit. Die acht Spielorte sind mit den in der Schweiz gut funktionierenden öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen, Ticketinhaber reisen kostenlos. Während sonst alles in der Schweiz sündhaft teuer ist, sind die Preise für Eintrittskarten mit 25 bis 90 Franken (rund 23 bis 85 Euro) moderat. Die Folge: Von 673 000 Tickets sind schon mehr als 600 000 verkauft.
Weniger Schwalben, weniger Beschwerden
Ziel der Uefa und der Schweizer Organisatoren ist, dass am Ende jedes Spiel ausverkauft sein soll. »Wir wollen eine globale Benchmark für Sportevents setzen«, sagt Keßler. Und dabei trotzdem Bodenständigkeit bewahren: Es kommt eher selten vor, dass Fußballerinnen bei der kleinsten Berührung schreiend zu Boden sinken. Entscheidungen der Referees werden meist klaglos akzeptiert.
Nia Künzer, die einst für Deutschland bei der WM 2003 das goldene Tor köpfte, hat vor zwei Jahren ein Buch herausgegeben: »Warum Frauen den besseren Fußball spielen«. Darin ist mit Statistiken belegt, dass ehrlicher gespielt wird. Sie arbeitet heute als Sportdirektorin für den Deutschen Fußball-Bund (DFB) an den Strukturen, der Talentförderung, der Sichtbarkeit – nur eines macht sie nicht: die Spielerinnen verändern.
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Die Fußballerinnen im aktuellen DFB-Kader sind erstaunlich offen. Sie plaudern nicht nur darüber, welche Netflix-Serien sie gerade schauen, sondern auch über ihre sexuelle Orientierung, ein Outing auch der besten Spielerinnen fällt kaum mehr auf. Mit beiden Beinen im Leben zu stehen ist für die Fußballerinnen auch deshalb eine Selbstverständlichkeit, weil fast keine vom Gehalt später den Lebensunterhalt bestreiten kann, nicht mal die Topkräfte der Topvereine. Viele von ihnen studieren. Eine Bundesligaspielerin verdient mittlerweile im Schnitt 4000 Euro. Die Nationalspielerinnen liegen im unteren fünfstelligen Bereich. Die Rekordablöse im deutschen Fußball für die bei der EM fehlende Lena Oberdorf beträgt 450 000 Euro. Zum Vergleich: Der gerade zum FC Liverpool transferierte Florian Wirtz kostete rund 120 Millionen Euro plus Boni. Joshua Kimmich, Kapitän der deutschen Nationalelf, wird bei 20 Millionen Euro Jahresgehalt taxiert. Die Frauen-Bundesliga mit ihren bislang zwölf Klubs generiert nur einige Millionen mehr Gesamtumsatz.
Die richtige Mischung aus Wachstum und Unbekümmertheit
Aber läuft deshalb etwas schief? Oder ist das ungerecht? Eher nicht. In den Lizenzvereinen subventioniert der Männerbereich bis heute die Frauenabteilung. Aus dem Fußball der Frauen ein wirtschaftlich tragfähiges Ökosystem zu machen, ist allseits der Wunsch. Dafür aber müssten Sponsoren, Medien und Fans bereit sein, mehr zu zahlen. Vielleicht geht ja auch im Fußball gesundes Wachstum. Gwinn ist davon überzeugt, dass zumindest bei ihr der Spagat gelingt. »Ich bin jetzt Teil der großen Fußballwelt. Trotzdem will ich mir diese Leichtigkeit, dieses Wilde erhalten. Eine gute Mischung aus Disziplin, Fokus – und eben auch Unbekümmertheit.«
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