- Politik
- Südamerika
Indigene in Kolumbien: »Ich fühlte eine Leere in mir«
Der indigene Tänzer Neider Júlicue Pequí über bewaffneten Konflikt und kulturelle Rückbesinnung
Wie sind Sie zum Tanzen gekommen?
Ich erinnere mich gut daran, wie meine Mutter mich als kleinen Jungen immer mit zum Tanzunterricht nahm. Ich beobachtete alles ganz genau – und irgendwann wurde mir klar, wie sehr mir das Tanzen gefällt. In der Grundschule in unserer indigenen Gemeinschaft tat ich mich mit zwei Freunden zusammen und wir imitierten urbane Tänze wie Hip-Hop. Obwohl ich Indigener bin, war ich ein großer Fan von Michael Jackson – das ist fast schon ironisch, weil es so gar nicht zu meinem kulturellen Kontext passt. In unserer Gemeinschaft hat das Tanzen einen hohen Stellenwert. Es gibt sogar Räume dafür – allerdings hauptsächlich für lateinamerikanische Tänze. Die Indigenen meiner Heimat tanzen Tänze aus den Andenregionen Boliviens, Ecuadors und Perus. Wir haben lange dafür gekämpft, dass wir drei Jungs unsere städtischen Rhythmen präsentieren durften.
Was bedeutet Tanzen für Sie?
Das Tanzen hat mich auch vom bewaffneten Konflikt abgelenkt, den ich von klein auf miterleben musste. Meine erste direkte Erfahrung mit der Gewalt machte ich mit acht Jahren, als ich aus der Schule kam und auf der Straße einen verwundeten Polizisten liegen sah. Ein Freund und ich zogen ihn zur nächsten Kurve – damit ihn die Täter nicht töteten.
Neider Júlicue Pequí, 29, ist ein indigener Tänzer des kolumbianischen Volkes der Nasa und kultureller Aktivist. Mit der Gründung der Tanzgruppe FODAARCT (Formación en Danza Artística y Cultura de Toribío Cauca) will er die fast ausgestorbene Kultur seines Volkes wiederbeleben und bewahren.
Inwiefern haben Gewalterfahrungen Ihr Leben beeinflusst?
Ein prägendes Ereignis war der Bombenanschlag der FARC-Guerilla in unserem Territorium im Jahr 2011. Ich musste meine kleinen Cousins auf dem Rücken durch den Fluss tragen, um der Explosion zu entkommen. Ich war voller Hass und Wut – an diesem Tag fasste ich den Entschluss, zum kolumbianischen Militär zu gehen. Das ist als Indigener eigentlich nicht üblich. Ich blieb zwei Jahre, sie wollten mich zum Offizier machen. Doch irgendetwas in mir sagte mir, dass ich zurück in meine Gemeinschaft muss.
Und dorthin sind Sie dann zurückgekehrt?
Ja. Aber als ich 2015 zurückkam, fühlte ich eine Leere in mir. Ich dachte sogar, dass ich besser im Militär geblieben wäre. Ich hatte kein klares Ziel. Also begann ich mit meiner Familie die Äcker zu bestellen. Plötzlich kamen zwei Kinder zu mir und fragten, warum ich nicht wieder mit der Tanzgruppe anfangen würde. Das war der Beginn unseres Projekts »FODAARCT – Ein Schritt in deinem Rhythmus.« Die spirituellen Anführer meiner Heimat sagten mir, ich sei mit dem Don geboren, Tänzer zu sein. (Anm.: Der Don ist eine spirituelle, kulturelle oder natürliche Fähigkeit, die einer Person vom Leben, den Vorfahren oder der Natur verliehen wurde.) Ich bin mit dem Spirit des Tanzes geboren. Deshalb war ich beim Militär und bei anderen Aufgaben nie glücklich – erst als ich zum Tanz zurückfand, verschwand diese innere Leere.
Waren Sie ab diesem Zeitpunkt immer sicher, dass im Tanzen Ihre Zukunft liegt?
Als ich frisch aus der Armee kam, war ich noch unsicher, wohin mein Weg führen würde. Aber ich traf zufällig einen Arzt. Er sagte mir, dass ich mit dem Tanz etwas Großes erreichen werde. Dieser Satz ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Letztlich hat mich die Arbeit mit der Jugend gerettet. Es ist nicht einfach, in meinem Kontext einer künstlerischen Tätigkeit nachzugehen – nicht nur, weil ich alles ehrenamtlich mache, sondern weil bewaffnete Gruppen wie die Segunda Marquetalia der FARC-Dissidenten und paramilitärische Einheiten aktiv sind und uns zum militärischen Ziel erklärt haben. Ich habe bereits einen Anschlag überlebt. Einige Mädchen aus unserer Tanzgruppe wohnen weit entfernt und müssen auf dem Weg zum Proberaum an einem Guerilla-Camp vorbeigehen. Trotzdem kommen sie, weil ihnen der Tanz so wichtig ist. Es gibt auch kaum Transportmöglichkeiten am Abend, wir müssen uns daher immer gut organisieren. Heute ist unser Territorium ein Brennpunkt bewaffneter Gruppen. Deshalb bin ich jetzt auch Teil der indigenen Schutztruppe, die unsere Gemeinschaft verteidigt.
Wie kamen Sie auf die Idee, als Erster seit Jahrzehnten traditionelle Tänze zu praktizieren?
Ich hatte verinnerlicht, dass indigene Tänze nur aus den Anden Boliviens, Perus und Ecuadors stammen. Doch dann sagte ich mir: Unsere Nasa-Vorfahren hatten doch ihre eigenen Tänze – aber wo sind sie? Niemand tanzte sie, niemand wusste mehr davon. Unsere Gemeinschaft legt den Fokus eher auf das, was von außen kommt. Nicht einmal kolumbianische Folklore war präsent. Ich begann zu recherchieren, sprach mit Ältesten, traditionellen Musikern und Tänzern. Ich fand heraus, dass wir sehr wohl viele ursprüngliche Tänze haben: Willkommenstänze, Engelstänze, Tänze für das und mit dem Wasser. Dabei wurde mir klar, dass es möglich ist, diese Tänze wiederzubeleben – und neue Elemente aus der Gegenwart hinzuzufügen. So entsteht mit der Jugend etwas Neues. Die Idee hinter dem Projekt war, unsere Kultur zu präsentieren – zu zeigen, wie wir ohne Geld leben, indem wir gegenseitig Lebensmittel austauschen und in Verbindung mit der Natur.
Wie haben Sie es geschafft, aus einer Idee ein lebendiges Tanzprojekt mit über 50 Jugendlichen zu machen?
Es war sehr schwer, den Jugendlichen den Wert unserer Identität näherzubringen. Bei unserer ersten Aufführung wurden wir ausgelacht, die Tänzer weinten. Heute treten wir nicht mehr in unserer Heimat auf. Dort ist die Anerkennung immer noch gering – aber außerhalb werden wir geschätzt. Wir wurden bereits zu Festivals in ganz Kolumbien eingeladen, inzwischen auch ins Ausland. Derzeit nehmen wir am Festival für indigene Tänze in Bogotá teil – bereits zum zweiten Mal konnten wir uns erfolgreich dafür qualifizieren. Unsere Kleidung wurde von Frauen aus unserem Territorium nachgenäht, nach alten Bildern unserer Vorfahren. Unser erstes Stück hieß »Sohn des Wassers«. Danach folgten weitere, etwa »Frauen zum Wasser«, Wasser ist das Element unseres Volkes. Heute sind wir 56 Kinder und Jugendliche.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
War es eine Herausforderung?
Da diese Form des Tanzes in unserer Gemeinschaft nicht dem gängigen Geschmack entspricht, erhalten wir weder von der indigenen noch von der staatlichen Regierung finanzielle Unterstützung. Meistens wurden wir stattdessen aus anderen Regionen Kolumbiens gefördert. Unsere Teilnahme an einem Festival in Mexiko mussten wir leider absagen, weil uns das Geld fehlte. Anfangs hatte ich zudem die Sorge, dass wir außerhalb unseres Territoriums als Guerilleros abgestempelt und nicht freundlich empfangen würden – so ist es schon anderen Gruppen ergangen. Aber wir hatten Glück: Bisher sind wir überall mit Offenheit und großem Interesse aufgenommen worden.
Warum ist das Tanzen für die Jugend wichtig?
Tanzen bedeutet für mich Identifikation mit unserer indigenen Herkunft, diese wird in den Städten oft vergessen. Ich will, dass die Jugend unsere Kultur schätzen lernt und stolz darauf ist. Aber ich bin auch glücklich darüber, dass unsere Tänzer die Möglichkeit haben, das Territorium zu verlassen und andere Welten kennenzulernen.
Wir haben einen Preis. Aber keinen Gewinn.
Die »nd.Genossenschaft« gehört den Menschen, die sie ermöglichen: unseren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die mit ihrem Beitrag linken Journalismus für alle sichern: ohne Gewinnmaximierung, Medienkonzern oder Tech-Milliardär.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen sichtbar machen, die sonst untergehen
→ Stimmen Gehör verschaffen, die oft überhört werden
→ Desinformation Fakten entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und vertiefen
Jetzt »Freiwillig zahlen« und die Finanzierung unserer solidarischen Zeitung unterstützen. Damit nd.bleibt.