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Spätzündung bei der Fusion
Unsere Kolumnistin schwimmt bei ihrem ersten Fusion-Festival in einem Meer aus absurden Eindrücken
»Sechs Jahre war ich jetzt nicht auf ’nem Festival und …« Der Wind verweht den Rest des Satzes. Ich habe mich mit drei Menschen unter einen Baum am Rand des Zeltplatzes geflüchtet, als der Regenguss beginnt. »… geküsst und … wollte meinen Ehering wegwerfen … versteht ihr?« Hinter mir stehen zwei Frauen und ein Mann Mitte 30. Der Mann sagt: »Hmmh« und die zweite Frau: »Klar.« Dann zerreißt die Wolkendecke, der Regen verebbt. Meine Freundin kommt strahlend aus den Büschen, wo der Steg beginnt.
Ich war immer ein Spätzünder, holte mein Abi nach, begann das Studium mit Mitte 20 und bekam mit Anfang 30 meinen Sohn. Fing spät an zu schwimmen und Romane zu schreiben, fand zum Fußball. Mit knapp 60 stehe ich zum ersten Mal am Einlass der Fusion – einem Möglichkeitsraum, einer temporären Utopie, wie die Macher es formulieren. »Wir tanzen. Nicht aus Flucht, sondern aus Trotz. Nicht zur Ablenkung, sondern als Antwort.«
Unter den 70 000 Besuchern des Festivals, das vom letzten Juni-Mittwoch bis Sonntag rund um die Uhr Musik, Talks, Spiele, Karaoke, Yoga, eine menschliche Waschanlange und tausenderlei mehr bietet, sind meine Freundin und ich als Artists unterwegs. Wir erzählen Geschichte und Geschichten über Feminismus und Punkerinnen, dürfen per Shuttlebus an- und abreisen, werden zum Hotel in Mirow gefahren und rundum versorgt.
Anne Hahn ist Autorin von Romanen und Sachbüchern und schwimmt für »nd« durch die Gewässer der Welt.
Am ersten Abend laufen wir durch den verwaisten Ort zum dunkelgrünen See, werfen uns hinein nach Autobahnsperrung, Aufregung und Auftritt. Alles gleitet ab. Ein Junge wirft seinem Vater im flachen Wasser einen Ball zu, ein Rotmilan kreist über dem Kirchturm. Das Strandcafé schließt, der Bademeister packt ein, das schmiedeeiserne Gitter bleibt offen. Ein Hansa-Rostock-Handtuch weht im Wind, Gnitzen kommen. Vom anderen Ufer wummert die Fusion, Lichter tunken in die Wolken.
Wir fahren zurück in den Kulturkosmos und laufen zwischen den Hangars herum, bewundern Männer in Badeanzügen, das Mädchen mit den Katzenohren, den St.-Pauli-Fan mit Lichtschwert, die leuchtenden Schirme und Quallen, das Lichtspektakel der Nacht. Echsen, Drachen, Raketen. Es ist viel, es ist zauberhaft. Alle sind beschwingt, mancher schläft mittendrin, andere tanzen sich wund. Im Luftschloss brüllen maskierte Frauen der norwegischen Band Witch Club Satan ein paar Hundert Leute schwindelig, bis der Schweiß von der Decke tropft.
Als wir irgendwann ins Hotel stolpern und eine Zahl stammeln, meint der Nachtportier erfreut: »Na endlich mal jemand, der seine Zimmernummer nicht vergessen hat!«
Sonntagmittag spielt der Himmel über Lärz Kabolz. Zur Freikörperküste oder zum Dorfteich? Wir schlendern am überdachten Trance Dance vorbei, etwa 100 Menschen hüpfen gemeinsam zum »Hu-hu-hu« ihres Gurus. Im Zirkus herrscht Ruhe, an der Handy-Ladestelle und den Toiletten sind lange Schlangen, auf einem Baumstamm liegt eine Zahnbürste. Hinter Büschen ragt ein Steg in den künstlichen See, ein Fisch springt silbern auf, meine Freundin geht als Erste schwimmen. Ich blinzele in dunkelgraue Wolken und steige schon in den Badeanzug.
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