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Pride Parade 2025: Berlins Straßen mit Glitzerkrücken erobern
Unter dem Motto »Behindert und verrückt – feiern bis zum Auffallen« findet diesen Samstag die Pride Parade statt.
Keine Stadt ist wirklich für alle Menschen geschaffen, darüber kann auch Berlin nicht hinwegtäuschen. An vielen Stellen haben Menschen mit Behinderungen oder psychischen Krankheiten keinen gleichberechtigten Zugang zu Grundlegendem, sei es zum ÖPNV oder zu Ämtern. Ein Stück Berlin erobern sie sich diesen Samstag allerdings zurück: auf der Pride Parade unter dem Motto: »Behindert und verrückt – feiern bis zum Auffallen!« Menschen mit Behinderungen und psychischen Krisen »gehen und humpeln und rollen« auch dieses Jahr wieder für ihre Rechte und Selbstbestimmung auf die Straße. Mitfeiern dürfen alle, die wollen.
»Wir wollen keine Scham mehr. Keine Anpassung. Keine stillen Ecken für uns. Wir nehmen den Raum, den wir brauchen«, heißt es im Demo-Aufruf zur diesjährigen Pride Parade. Solidaritätsbekundungen für andere Menschenrechtskämpfe und queere, emanzipatorische Gruppen sind klar erwünscht, Parteisymbole hingegen nicht. Neben der Parade mit Redebeiträgen und Musik, etwa von der transweiblichen Sängerin Faulenza, steht auch dieses Jahr wieder die Verleihung der Glitzerkrücke an. Der Negativpreis für besonders fiese Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung durch Unternehmen, Gesetze oder Institutionen ging in den vergangenen Jahren etwa an die psychiatrische Station des Urban-Krankenhauses oder die Bildungsverwaltung des Berliner Senats.
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»Menschen mit Beeinträchtigung sind nicht gut in die Gesellschaft eingebunden«, sagt Sascha Ubrig, hauptamtlicher Interessenvertreter für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung bei der Lebenshilfe Berlin. Da er selbst betroffen ist, berichtet er aus persönlicher wie auch aus beruflicher Erfahrung. »Überall gibt es Barrieren«, so Ubrig. Beispielsweise sei auf Ämtern vieles zu schwer, von Formularen bis zu Gesprächen. »Es wird keine Leichte Sprache verwendet. Oft findet man sich in Gebäuden nicht zurecht. Die Internetseiten sind zu schwer. Zum Beispiel die Seiten von ›Berlin.de‹. Ich benutze sie dann gar nicht mehr«, sagt er. Bei wichtigen Gesetzen und Planungen würden Menschen mit Beeinträchtigung gar nicht einbezogen.
Seit 2013 findet die Pride Parade jährlich statt, 2024 zählte sie an die 1000 Teilnehmer*innen. Das Konzept von diskriminierten und marginalisierten Gruppen, die sich selbst in die Mitte der Gesellschaft und vor allem in die gesellschaftliche Wahrnehmung feiern, existiert schon lange. Wie bei der Bürgerrechts- oder der LGBTQ-Bewegung findet sich der Ursprung der Disability-Bewegung in Nordamerika.
In Deutschland geht die Pride Parade auf die Krüppelbewegung der 70er Jahre zurück, bei der nicht nur die Begrifflichkeiten selbstermächtigend positiv umgedeutet wurden. Neben Gleichberechtigung und Abbau von Barrieren kämpften die Aktivist*innen für eine Emanzipation, bei der Betroffene selbst öffentlich auftreten, statt dass über sie verhandelt wird. »Menschen mit Beeinträchtigung sind viel zu wenig sichtbar. Das ist ein Problem«, sagt auch Sascha Ubrig.
Etwa zehn Prozent der Berliner*innen waren 2023 schwerbehindert, umfassender wird die Statistik nicht erhoben. Dass allerdings nicht jede*r zehnte Kolleg*in oder Mitschüler*in eine Behinderung hat, zeigt, wie klar die Welten getrennt sind. Das Bündnis hinter der Pride Parade forderte im letzten Demo-Aufruf: »Die Menschen mit Behinderung, die arbeiten können, sollen überall mitarbeiten können! In bezahlter und in ehrenamtlicher Arbeit und nicht nur in Werkstätten!« Dafür bedürfe es einer echten Selbstbestimmung und gleichberechtigter Bezahlung. Laut Lebenshilfe betrug das durchschnittliche Entgelt in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung im Jahr 2022 monatlich etwa 222 Euro.
»Wir protestieren dagegen, dass in unserer kapitalistischen Gesellschaft Menschen nur etwas wert sind, wenn sie arbeiten können.«
Aus dem Aufruf zur Pride Parade 2025
Daten zur Häufigkeit psychischer Erkrankungen werden zu einem großen Teil im Zuge von Arbeitsunfähigkeit erhoben. Das deutet auf ein weiteres Problemfeld hin: Menschen mit Behinderungen oder in psychischen Krisen, die nicht in der Lage sind, zu arbeiten, sind auf Unterstützung angewiesen. Diese sei jedoch häufig an Zwangsmaßnahmen und sinnlose Bewerbungen gebunden, heißt es im Aufruf zur Pride Parade 2024. »Wir protestieren dagegen, dass in unserer kapitalistischen Gesellschaft Menschen nur etwas wert sind, wenn sie arbeiten können«, erklärt das Bündnis für dieses Jahr. Denn »behinderte und verrückte Menschen« wüssten selbst am besten, wie viel sie arbeiten könnten und auch welche medizinischen Behandlungen ihnen guttäten.
Der Berliner Senat steht hinter der UN-Behindertenrechtskonvention und setzt sich laut Koalitionsvertrag für Inklusion an Schulen ein. Trotzdem werden Förderschulen, wie etwa im Plänterwald oder am Waidmannsluster Damm, weiterhin aus- und neu gebaut. Das Deutsche Institut für Menschenrechte kritisiert den Berliner Senat, dadurch den Aufbau eines inklusiven Bildungssystems weiter zu verzögern oder sogar zu verhindern. Die Folge sei eine finanzielle und personelle Schwächung der Gleichberechtigung an Regelschulen.
Sascha Ubrig verweist auf das Landesgleichberechtigungsgesetz und fordert: »Aber das muss auch umgesetzt werden. Immer wird gesagt, es gibt zu wenig Geld. Das darf nicht sein.«
Für die Berliner Bildungspolitik gab es 2023 die Glitzerkrücke auf der Pride Parade. Als positives Vorbild führt das Deutsche Institut für Menschenrechte Bundesländer wie Hamburg oder Schleswig-Holstein an, in denen Förderschulen in Förderzentren umgewandelt würden. Die trennende Doppelstruktur aus allgemeinen- und Förderschulen würde so aufgelöst. Ohne eigene Schüler*innen dienen diese Zentren »ausschließlich der Unterstützung des gemeinsamen Unterrichts«. Die Förder-Lehrkräfte der ehemaligen Förderschulen werden dann Teil des Lehrer*innenkollegiums an den allgemeinen Schulen.
Ob in den Bereichen Arbeit, Bildung, Wohnen oder Medizin: »Wer nicht ›funktioniert‹, wird ausgeschlossen bzw. weggesperrt«, schreibt das Bündnis hinter der Pride Parade. Sascha Ubrig wünscht sich, dass Menschen mit Beeinträchtigungen endlich von der Politik ernst genommen werden. »Und die Mitmenschen sollen weniger unsicher sein. Wir sind auch Menschen wie alle anderen auch. Mit uns kann man reden.«
Dass politischer Kampf auch auf den Straßen stattfindet, kann die Stadt Berlin schon lange bezeugen. Diesen Samstag geht es bei der Pride Parade um nichts weniger als Sichtbarkeit und Selbstbestimmung. Im Aufruf zur Demonstration heißt es: »Wir stören. Wir feiern. Wir kämpfen. Mit Rollstuhl, Krücke, Chaos und Glitzer. Mit Wut, Freude und Musik.« Wer auch stören, feiern und mitkämpfen will, findet am Samstag, dem 5. Juli, ab 15 Uhr Gleichgesinnte – Treffpunkt: Ecke Hasenheide, Ecke Jahnstraße.
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